Kriegsende dank Babywindel

Von der mühsamen Erinnerung an die Kapitulation vor 70 Jahren – mit der wenig engagierten Stadt Aachen, einer quirligen Bürgerstiftung, dem zeitgleichen Abriss des grössten Befreiungssymbols und dem unvermittelt auftauchenden Henry Kissinger.

(Bild: open original)

Von der mühsamen Erinnerung an die Kapitulation vor 70 Jahren – mit der wenig engagierten Stadt Aachen, einer quirligen Bürgerstiftung, dem zeitgleichen Abriss des grössten Befreiungssymbols und dem unvermittelt auftauchenden Henry Kissinger.

Ein atemberaubender Klotz in schmutzig-beige, mitten im chicen Gründerzeit-Wohngebiet am Aachener Lousberg. Die Betonwände an die zwei Meter dick und höher als ein fünfstöckiges Haus, an einer Seite mit stählernen Staub- und Schallschutzwänden. Halb ausgeweidet ist der alte Kriegsbunker in der Rütscherstrasse schon und wirkt wie ein riesiger, offener Schrein. Seit einem Jahr wird er Stück für Stück abgerissen; überall gewaltige Schuttberge, Schrotthaufen, bedrohliche Überhänge aus den Resten des äusseren Mauerwerks. Dazwischen wieseln ein paar Bauarbeiter. 26’000 Tonnen Beton gilt es abzutragen.
 
Im Innern dieses Betonmonsters nahm das Ende seinen Anfang. 199 Tage vor der Kapitulation des Deutschen Reiches, am 21. 10. 1944 um 12:05 Uhr, verlässt Wehrmacht-Oberst Gerhard Wilck den Steinklotz. Der Stadtkommandant übergibt nach sechs Wochen fürchterlicher Bombardierungen und Häuserkämpfe die Kapitulationsurkunde an die US-Amerikaner. Aachen gibt auf, gegen den ausdrücklichen Führerbefehl.

Hans-Joachim Geupel steht vor der Grossbaustelle und ist weniger erschüttert als erwartet. «Keine Wertung» will er abgeben, dass dieser Erinnerungsort vernichtet wird – für 40 Luxus-Wohnungen. Im Nachhinein habe der Abriss sogar sein Gutes. «Ohne die heftigen Proteste vor zwei Jahren wären wir wahrscheinlich gar nicht auf das Projekt gekommen.»
 
Wir – das ist die kleine Bürgerstiftung Lebensraum Aachen, deren Vorsitzender der 62-jährige Ex-Bahnmanager ist. Das Projekt: Letzte Zeitzeugen-Interviews, die Aufarbeitung durch Historiker, ein bewegendes Buch und heute Mittag eine grosse Gedenkveranstaltung.

Aachen ist zu erschöpft für eine Jubiläumsfeier

Aachen, 21. 10. 1944: Die erste deutsche Grossstadt war in der Hand der Allierten. Ein grosses Symbol. Ein Weltereignis damals. In Aachen heute: wenig.
 
Über Jahrzehnte wurde der Bunker als monumentales Friedenssymbol missachtet. Ein Hochschulinstitut hatte ihn jahrzehntelang nutzen dürfen und baute innen so intensiv um, dass Denkmalschutz zuletzt nicht mehr infrage kam. Investoren erwarben die Immobilie, die Stadt erteilte die Baugenehmigung. Proteststürme. Anwohner klagten, erfolglos. Sie mussten sich gegen den Vorwurf verteidigen, es ginge ihnen nur um Baustellenbelästigung.
 
«Die Stadt hätte am Gedenktag nichts weiter gemacht», glaubt Geupel. Zur Entschuldigung: Aachen ist erschöpft vom «Karlsjahr», 1200 Jahre nach dem Tod Karls des Grossen. Pausenlos setzte es Feierlichkeiten für den heimischen Sachsenschlächter, der Europa mit zahllosen Gemetzeln zu einen suchte. Tja, sagt Geupel, dann müssen eben die Bürger ran: «Unser Projekt gegen das Vergessen: Um darüber nachzudenken, wo diese scheinbar selbstverständlichen Werte wie Freiheit und Frieden ihren Ursprung haben.»
 
Irgendwann habe das offizielle Aachen gefragt, ob man sich nicht beteiligen könne. Geupel lächelt: «Die grosse Stadt bittet uns kleine Stiftung.» Immerhin: «Jetzt unterstützen sie uns sehr.» Alexander Lohe, der Referent des Oberbürgermeisters, formuliert griffig: «Damit reflektiert wird, was wir gewonnen haben, als wir den Krieg verloren haben.»

«Damit reflektiert wird, was wir gewonnen haben, als wir den Krieg verloren haben.»


Alexander Lohe, Referent des Oberbürgermeisters.

Die Bürgerstiftung hat für ihr Buch «70 Jahre Frieden und Freiheit in Aachen» 14 Zeitzeugen aufgetrieben. Sie berichten von den überwältigenden Ängsten, vom Darben, von den Toten überall. «Wir wussten ja gar nicht, wie das ist, wenn kein Krieg ist», so ein damals 7-Jähriger.
 
Dann die Erlösung und die Dankbarkeit für die Befreier. Welche Art Leben nach dem Überleben kommt, weiss niemand. Mehrere schreiben, dass sie zum ersten Mal einen Schwarzen sahen: «Was hatte man nicht alles über die gehört, dass das Menschenfresser waren und so weiter…» Ein Mädchen: «In einem Gemüseladen gab es plötzlich Obst, und meine Mutter kaufte mir eine Traube! Die wollte ich teilen, für uns beide. Aber sie sagte nur: Nein, die ist jetzt nur für dich!»
 
«Leider», erzählt Geupel, «haben wir keinen der Befreier mehr gefunden.» Die wären heute auch 90 und älter. Aber zwei Aachener, die als Kinder selbst im Lousberg-Bunker waren, zusammengepfercht in Todesangst, erinnern sich: «Der ganze Bunker wankte und schien sich aus den Fundamenten zu erheben – wie bei einem Erdbeben.» Als die Wehrmachtführung kapitulieren wollte, so schreibt eine damals 11-Jährige, suchte man im Bunker vergeblich nach einem weissen Laken. Indes: «Da auch einige Babys da waren, fanden sich doch noch weisse Tücher.» Kriegsende dank Babywindel.

Und plötzlich steht da Henry Kissinger

Das Thema treibt die Menschen um. Ein Zeitzeuge schlug jetzt vor, die Strasse vor dem Bunker in «Grosse Freiheit» umzubenennen. Auch ein 81-Jähriger meldete sich nachträglich. Mit seiner Familie sei er damals bei Fürth evakuiert gewesen, in grosser Angst, was aus ihrem Haus in Aachen geworden sei. In Fürth trafen sie einen US-Soldaten, der perfekt deutsch sprach: Er sei neben dem markanten Haus stationiert gewesen und kürzlich noch dort gewesen – alles okay. «Der Mann stellte sich als Henry Kissinger vor. Damals sagte uns das ja nichts, aber bis heute läuft es mir bei dem Namen noch kalt den Rücken runter», berichtet der alte Mann ganz aufgeregt.
 
Seit dem Jahrestag 6. Juni, der Landung der Allierten, stellt die Bürgerstiftung unter freeaachen44.de historisch tagesaktuelle Tweets ein, mit zahlreichen Links. Sie lesen sich wie ein Kriegs-Countdown: Aachen, 12. 9.: Die ersten Granaten schlagen ein. Partei und Polizei flüchten… 13. 9.: Bevölkerung weiss nicht wohin. Zwei 14-Jährige wegen Plünderei durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und exekutiert… Maastricht wird von US-Truppen eingenommen. 17. 9.: Valkenburg und Heerlen sind frei. 17 km bis Aachen. 4. 10.: Über 20.000 Wehrmachtsoldaten sind in Stellung gegangen. 8. 10.: Lautsprecherdurchsagen aus dem Stadtwald! Ultimatum der US-Truppen. 13. 10.: Oberst Wilck verlegt seinen Gefechtsstand in den Bunker Rütscherstrasse. 16. 10.: Der grosse konzentrische Angriff beginnt …

Geschichte lässt sich nicht verschieben

Heute Mittag läuteten ab 12 Uhr in Aachen alle Glocken. Eine Idee nicht der Stadt, sondern der Bürgerstiftung. Die Kirchen waren schnell angetan davon, berichtet Geupel. «Trauer, Dankbarkeit, Verpflichtung für die Zukunft – jeder wird etwas anderes empfinden.»
 
Glockenläuten indes, meinte ein Stifter, das werden doch die vielen bassbeboosterten Autofahrer gar nicht mitbekommen. Warum nicht alle Ampeln für fünf Minuten auf Rot zu stellen? Der Rote Knopf im Verkehrsamt und die zugehörige Mitarbeiterin waren bald identifiziert. Es gab auch Befürworter bei der Stadt. Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) aber sagte Nein. Glocken, so seine phantasielose Begründung, seien doch genug.
 
Vergangenen Mittwoch fragte der OB-Referent den verdutzten Geupel, ob die Gedenkveranstaltung nicht etwas später starten könne. Grund: Der OB müsse vorher dringend einen anderen Bunker besuchen, einen des Konsums. Die neue Shopping Mall AquisPlaza habe Richtfest. Geupel teilte mit, 12:05 Uhr sei nun mal die geschichtlich unveränderbare Zeit.

Am Lousberg-Bunker surrt derweil die automatische Betonsäge weiter. Mit Wasserberieselung, wegen des Staubs. Eine sehr archaische Konstruktion über wacklige Bänder und windschiefe Seilzüge und damit eine Technologie, die auf bizarre Weise zu 1944 passt. Stetig tropft das Wasser aus dem Mauerwerk. Im Frühjahr soll der Klotz Geschichte sein.

Immerhin ist man auf der Baustelle historisch sensibler als der Oberbürgermeister: Auf Vorschlag Geupels werden die Arbeiter während des Glockenläutens ihre Meissel, Presslufthämmer und Hydraulikzangen niederlegen. «Dazu bedurfte es nur eines ganz kurzen Telefonats.»

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