Der Kurdenkonflikt weitet sich auf die ganze Türkei aus. Bei den anstehenden Parlamentswahlen im November hofft Premier Erdogan auf Stimmen aus dem nationalistischen Lager.
Nachdem die kurdische Rebellenbewegung PKK in den vergangenen drei Tagen bei Attentaten im Südosten der Türkei mehr als 30 Soldaten und Polizisten getötet hatte, kam es in der Nacht zum Mittwoch in zahlreichen türkischen Städten zu Demonstrationen und Übergriffen gegen kurdische Einrichtungen.
Die Proteste richten sich nicht nur gegen die militante kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei als Terrororganisation verboten ist, sondern zunehmend auch gegen die gemässigte pro-kurdische Partei HDP, die bei der Wahl vom Juni mit rund 13 Prozent der Stimmen erstmals den Sprung ins Parlament schaffte. In Ankara steckten Demonstranten das Hauptquartier der HDP in Brand. Auch in zahlreichen anderen Städten gab es Angriffe nationalistischer Randalierer auf Kurden, HDP-Büros und andere kurdische Einrichtungen. Amateurvideos in sozialen Netzwerken zeigten Plünderungen kurdischer Geschäfte. In der zentralanatolischen Provinzhauptstadt Kirsehir wurden vier kurdische Läden in Brand gesteckt.
«Erdogans Kristallnacht»
Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas sprach von mehr als 400 Übergriffen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Premierminister Ahmet Davutoglu stellen die HDP als politischen Arm der PKK dar. Durch den Wahlerfolg der HDP verlor die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, die das Land seit 2002 ununterbrochen regiert, erstmals ihre absolute Mehrheit. Am 1. November soll in der Türkei ein neues Parlament gewählt werden. HDP-Chef Demirtas warnte am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in der Kurdenhochburg Diyarbakir, wegen der Sicherheitslage in der Region werde es unmöglich, die Wahlen abzuhalten.
«In dieser Situation kann man keine Wahlurnen aufstellen», sagte Demirtas. Er machte die Regierung für die Eskalation verantwortlich: «Die von langer Hand geplanten Angriffe werden von der Regierung gesteuert», sagte Demirtas. Erdogan habe damit «eine Entscheidung für den Bürgerkrieg gefällt», so der HDP-Vorsitzende. Der HDP-Politiker Ertugrul Kürkcü sprach von «Erdogans Kristallnacht» – eine Anspielung auf die antijüdischen Pogrome in Nazi-Deutschland 1938.
Die US-Botschaft in Ankara äusserte sich im Kurznachrichtendienst Twitter besorgt über die Welle der Gewalt, die das Land überrollt.
Nicht nur die HDP steht jetzt im Fadenkreuz der Proteste. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen wurde am Dienstagabend auch die Zentrale der regierungskritischen Tageszeitung «Hürriyet» in Istanbul von Regierungsanhängern belagert und mit Steinwürfen attackiert. In Sincan bei Ankara wurde ein Büro der bürgerlichen Oppositionspartei CHP angegriffen. In der Islamistenhochburg Konya steckten Demonstranten vor dem örtlichen CHP-Büro zwei Autos in Brand. Die US-Botschaft in Ankara äusserte sich im Kurznachrichtendienst Twitter besorgt über die Welle der Gewalt, die das Land überrollt. Es sei «wichtig, dass alle politischen Parteien und Medien in gleichem Masse Schutz durch die Polizei erhielten», twitterten die US-Diplomaten.
Nach den blutigen Attentaten der PKK hatten türkische Kampfflugzeuge zu Beginn der Woche mutmassliche Stellungen der Guerilla im Nordirak bombardiert. Zugleich rückte die Türkei mit etwa 230 Spezialsoldaten in das Nachbarland vor, um flüchtige PKK-Kämpfer zu verfolgen. Zuletzt hatte die Türkei 2011 Bodentruppen gegen die Guerilla im Nordirak eingesetzt. Kurdenpolitiker beschuldigen Erdogan und Davutoglu, sie heizten den Konflikt an, um von der Polarisierung bei der Wahl am 1. November zu profitieren.
Öcalan wieder in Isolationshaft
Nach der Parlamentswahl vom Juni hatte die Regierung den vor einigen Jahren eingeleiteten Friedensprozess mit den Kurden für gescheitert erklärt. Als eine Schlüsselfigur der Verhandlungen galt der seit 1999 inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan, der 2013 die PKK zu einem Waffenstillstand bewegt hatte. Von Öcalan hat man seit über drei Monaten nichts mehr gehört. Er sitzt wieder in strikter Isolationshaft und darf keinen Besuch von seinen Anwälten bekommen.
Die Neuwahl war nötig geworden, nachdem Verhandlungen über die Bildung einer Koalition scheiterten – auf Geheiss Erdogans, wie Regierungskritiker sagen. Erdogan und Davutoglu hoffen, bei dem Urnengang die absolute Mehrheit für ihre islamisch-konservative AKP zurückgewinnen zu können. Damit bekäme Erdogan eine Chance, seine Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm noch mehr Macht geben soll, umzusetzen. Erdogan argumentiert, die angespannte Sicherheitslage verlange eine «starke Regierung». Er spekuliert damit wohl nicht zuletzt darauf, der pro-kurdischen HDP das Wasser abzugraben und Stimmen aus dem nationalistischen Lager zu gewinnen. Ob die Rechnung aufgeht, ist aber fraglich: Meinungsforscher sehen die pro-kurdische HDP erneut bei 12 bis 14 Prozent.