Land mit und ohne Grenzen

Israel dringt trotz internationaler Proteste weiter in die ­Westbank vor.

Bauen, bis die Intifada kommt: Jüdischer Siedlungsbau in der Nähe von Jerusalem. (Bild: Reuters)

Israel dringt trotz internationaler Proteste weiter in die ­Westbank vor.

In diesen Tagen jährt sich zum zwanzigsten Mal das oft angerufene Osloer Abkommen von 1993, und zugleich finden hinter verschlossenen Türen nach dreijährigem Unterbruch wieder einmal Direktverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern unter amerikanischer Obhut statt. Von palästinensischer Seite wurde ein Siedlungsstopp zur Bedingung für die Aufnahme der Verhandlungen gemacht.

Trotzdem (oder möglicherweise gerade deswegen) schrieb die israe­lische Regierung kurz vor Verhandlungsbeginn den Bau von weiteren 1200 Wohnungen aus. Auf palästinensischer Seite krebste man daraufhin zurück und beschränkte sich darauf zu erklären, dass die neuen Siedlungen den Erfolg von Verhandlungen gefährden würden. Verhandlungen, bei denen es eigentlich um die Grenzziehung zwischen Israel und einem möglichen Palästinenserstaat gehen sollte.

Die israelische Siedlungsexpansion wird regelmässig – und jetzt auch wieder – von der internationalen Staatengemeinschaft verurteilt und dennoch weiter vorangetrieben. Die UNO und die EU deklarieren dieses Vorgehen als «illegal», die USA argumentieren vorsichtiger und beurteilen diese Politik als «unrechtmässig». Israels Bauminister der rechtsgerichteten Partei Habayit Hayehudi (Das jüdische Haus) erklärt dagegen: «Kein Land der Erde lässt sich von anderen Staaten vorschreiben, wo es bauen und wo es nicht bauen darf.»

Der dies sagt, geht davon aus, dass das Siedlungsland zu Israel gehört. Für Israel in den Grenzen von 1967 hat sich der Begriff «Kernland» ein­gebürgert, seine Ergänzung – als Wort und als Realität – ist der Expansionsraum.

Grundsätzlich für Zweistaaten

Die Siedlungsexpansion stand nicht im formellen Gegensatz zu «Oslo», weil in jener Vereinbarung von Siedlungen gar nicht die Rede war. Sie stand aber im Widerspruch zum Geist, in dem jene Vereinbarung getroffen worden war, weil «Oslo» ein Meilenstein der Annäherung hätte sein sollen. Das Abkommen von Oslo, von Ariel Sharon als »grösste Katastrophe für Israel» bezeichnet, brachte eine gewisse gegenseitige Anerkennung und den Palästinensern eine gewisse Selbstverwaltung mit der Pflicht, für Ruhe im eigenen Gebiet zu sorgen. «Oslo» hätte der Anfang einer Zweistaatenlösung sein sollen, wobei einigermassen klar war, dass es gemessen an Gesamtpalästina von 1948 um eine etwa 80:20-Aufteilung zugunsten Israels ging und geht.

Die danach sich verstärkende Siedlungsaktivität brachte die beiden Seiten jedoch weiter auseinander und macht nun – wie Israel nahestehende Stimmen halb als Feststellung von Tatsachen, halb als Wunschvorstellung inzwischen festhalten – eine Zweistaaten-Lösung unmöglich.

Die Alternative zur Zweistaaten­lösung ist ein gemeinsamer binationaler Staat. Diese Lösung wurde von israelischer Seite lange abgelehnt, weil er für die Israelis aus demografischen Gründen eine Minorisierung brächte. Ist Westjordanien aber einmal genügend durch die Siedlungsstruktur zerstückelt und von einem getrennten Strassensystem durchzogen, scheinen die so verbleibenden palästinensischen «Bantustans» innerhalb eines jüdischen Grossstaates kein Problem mehr zu sein. Die Vertreibung richtet sich übrigens nicht nur gegen die ­«gefährlichen» Palästinenser, sondern mit signifikanter Rücksichtslosigkeit auch gegen die Beduinen.

Israel bildet keinen verfassungsmässig umschriebenen Staat.

Israel ist ein Land mit und ohne Grenzen. Zum einen gibt es zwar die Grenzen des UN-Teilungsplans von 1947, die für Israel ein halbwegs ­akzeptierter Ausgangspunkt waren. Andererseits bildet Israel keinen verfassungsmässig umschriebenen Staat. Im Falle der Westbank wird das fle­xible Geltungssystem so gehandhabt, dass der israelische Siedlungsraum wie ein Teil des israelischen Staates ­behandelt wird, die palästinensischen Restgebiete dagegen wie fremdes, aber kontrolliertes und unterworfenes Gebiet mit zweit- und drittklassiger Bevölkerung.

Die Expansion wird auf zwei Ebenen vorangetrieben: auf der staatlichen und militärischen durch Zonenordnungen und auf der privaten durch systematisch betriebenen Land­erwerb. Die Siedler werden, verglichen mit den «Kernland»-Bürgern, sogar bevorzugt: Sie dürfen den Staat zusätzlich belasten mit Steuervergünstigungen, der Inanspruchnahme von besonderen Infrastrukturbauten und Sicherheitsvorkehrungen.

Israels Versuch, die Siedlungen bereits jetzt als Teil Israels zu sehen, zeigt sich im Umgang mit Siedlerprodukten, die als «Made in Israel» ­de­klariert werden. Das steht im Widerspruch zum geltenden Freihandelsabkommen mit der EU von 1995, das Präferenz­zölle auf das ­israelische «Kernland» beschränkt. Wenn die Herkunft von Siedlerprodukten korrekt mit «Westbank», «Ostjerusalem» oder «Golan» angegeben wird, wird dies von ­israelischer Seite in die Nähe von Boykottmassnahmen ­gerückt.

Eine De-facto-Annexion

Dagegen würdigte der israelische Chefdiplomat Alon Liel die Weigerung, die Etikette «Made in Israel» für die besetzten Gebiete anzuer­kennen, als einen «schlichten Akt», der uns daran erinnere, «dass die Siedlungen internationales Recht verletzen und ein Werkzeug für das gefährliche Projekt einer De-facto-Annexion sind».

Da in den Direktbeziehungen keine Fortschritte zustandekamen, ist die palästinensische Autonomiebehörde bestrebt, via UNO und UNO-Organisationen eine Anerkennung als Staat zu erlangen. Auf die Aufnahme in die UNESCO im Oktober 2011 wie auf die erfolgreiche Bewerbung um den Beobachterstatus im November 2012 reagierte Israel sogleich mit Strafmassnahmen.

Beide Male wurden weitere Siedlungsbauten, die man wohl ohnehin in Planung hatte, als Sanktion angekündigt. Im einen Fall waren es 2000, im anderen Fall 3000 Wohneinheiten. Letztere auf dem besonders umstrittenen Terrain E1, das ein Verbindungsstück zwischen Ostjerusalem und der Westbank ist oder im Fall einer israelischen Besiedlung diese Teile vollständig voneinander trennt. Mit der Intensivierung der Siedlungstätigkeit nimmt einerseits die Kritik an ihr zu, andererseits wird die Expansion auch immer hemmungs­loser gerechtfertigt. Dabei steht das Argument der Sicherheit nicht mehr im Vordergrund.

Es wird vielmehr grundsätzlich, das heisst völkerrechtlich und heilsgeschichtlich argumentiert. Völkerrechtlich mit dem Argument, dass die Westbank (oder Cisjordanien) gar kein besetztes Palästinensergebiet sei, weil es vor der Besetzung von 1967 zu Jordanien gehörte habe. Die Sprachregelung lautet jetzt eben «umstrittene» und nicht besetzte Gebiete.

Selber schuld!

Das heilsgeschichtliche Argument beruft sich darauf, dass das ganze Gebiet von Gott versprochenes Land sei. Letzteres wird auch von den in den USA stark verbreiteten, aber auch in der Schweiz präsenten Evangelikalen so gesehen. Ein weiteres Argument sieht in den Siedlungen einen gerechten Ausgleich für die Vertreibung von ­Juden aus arabischen Ländern.

Die gröbste Rechtfertigung geht dahin, dass die Palästinenser und Araber selbst schuld seien, weil sie die Kriege von 1948 und 1967 vom Zaune gebrochen hätten. Mit anderen Worten: Unrecht sei hinzunehmen, wenn es die Folge eines von der Gegenseite begangenen Unrechts sei. Inzwischen haben Historiker wie beispielsweise Benny Morris und Ilan Pappe allerdings aufgezeigt, dass die israelische Seite in den Auseinandersetzungen von 1948 mindestens so sehr Aggressor war.

Der Kampf um Territorien ist das eine, das Zugestehen von Lebensräumen das andere. Wie man weiss, ist der individuelle private Besitz der ­Palästinenser in vielen Fällen der ­formellen Enteignung oder einfach der wilden Aneignung ausgesetzt. In der umfassenderen Betrachtung ­hängen Ansprüche davon ab, ob eine Bevölkerung ein «Volk» ist.

Diese Qualität wird den Palästinensern nicht ohne weiteres zugestanden: Entweder werden sie einfach als Araber gesehen, die man anderen Arabern zuweisen kann, oder es wird gesagt, dass sie erst in allerjüngster Zeit zu einem Volk geworden seien. Das kann man, wenn man «Nation» statt «Volk» sagt, tatsächlich so sehen: Der palästinensische Nationalismus ist weitgehend eine Reaktion auf den israelischen Nationalismus.

Das sind Fragen, die auch in der Schweiz erörtert werden. Im Mai/Juni 2012 war die Migros der Kritik ausgesetzt, weil sie in Übereinstimmung mit dem Seco die Produkte aus den besetzten Gebieten nicht mehr als ­israelische Produkte anschrieb. Die israelische Botschaft in Bern sah darin eine Vorwegnahme in der Anerkennung der «umstrittenen» Territorien als nicht zu Israel gehörende Gebiete.

Und im Dezember 2012 wurden Stimmen laut, die missbilligten, dass der Bundesrat für die Verleihung des Beobachterstatus an die Autonomiebehörde eintrat, statt sich der Stimme zu enthalten. Es ist allerdings wenig überzeugend, wenn mit offensichtlicher Parteilichkeit unerwünschte Positionen als Einmischung und unstatthafte Parteilichkeit kritisiert werden.

*Georg Kreis ist emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Uni­ver­sität Basel. Bis Juli 2011 leitete er das ­Europainstitut Basel, bis Ende 2011 war er Präsident der Eidgenössischen Kommis­sion gegen Rassismus.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 04.10.13

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