Leben mit der Bombe

In Vietnam liegen noch immer Millionen von Blindgängern. Am schlimmsten ist es in der zentralvietnamesischen Provinz Quang Tri. Eine Reportage in Wort, Bild und Video.

Tan Tuong Mitarbeiter der Organisation Renew vernichten Blindgänger. Auf dem Gelände des Bauern Nguyen Van Ky werden eine Clusterbombe, eine Minenwerfgranate und Flugabwehrgeschosse zur Explosion gebracht. (Bild: Roland Schmid)

In Vietnam liegen noch immer Millionen von Blindgängern. Am schlimmsten ist es in der zentralvietnamesischen Provinz Quang Tri. Eine Reportage in Wort, Bild und Video.

Im Dorf Tantuong in der Provinz Quang Tri geht es heute Morgen hektisch zu und her. Strassen werden gesperrt, Zündkabel verlegt, Sprengstoffpakete deponiert, Nachbarn per Megafon gewarnt. Auslöser ist der Fund, den heute Morgen der Bauer Nguyen Van Ky machte, als er hinter dem Haus eine Kuh angebunden hatte. «Da lag eine Streubombe halb vergraben im Boden», erzählt der Bauer. Es ist nicht das erste Mal. «Aber es ist jedes Mal ein Schock. Ich rief sofort die Hotline des Projektes Renew an.»

Das Projekt Renew ist eine hauptsächlich von Norwegen und den USA finanzierte Nichtregierungsorganisation. In der Provinz Quang Tri entschärft und vernichtet sie Blindgänger, unterstützt Opfer und erteilt Kindern Präventionslektionen.

So wie an diesem Tag auch im Nachbardorf Cam Tuyen. Die zehnjährige Kieu gesteht, sie habe wegen der Blindgänger auf ihrem Schulweg manchmal Angst. Etwa ein Drittel der Klasse hat schon einmal gesehen, wie das Renew-Team Blindgänger zur Explosion brachte. Ja nicht berühren, Abstand halten und sofort die Renew-Hotline anrufen. Das wird den Kindern hier eingeschärft. Dazu zeigen die Renew-Leute grossformatige Bilder von der Vielzahl von Blindgänger-Typen, die hier im Boden lauern. Lernen mit der Bombe zu leben.

Vom Geheimdienstler zum Kriegsgegner

Gegründet wurde das Projekt Renew 2001 vom US-Kriegsveteranen Chuck Scearcy (71) und einem seiner Veteranen-Kollegen, der aus eigenen Mitteln eine Viertelmillion Dollar Startkapital spendete. Scearcy diente im Vietnamkrieg als Geheimdienstoffizier. Nach seiner Entlassung wurde er zu einem überzeugten Vietnamkriegsgegner und kehrte zurück nach Hanoi, wo er seit Jahrzehnten wohnt und sein Leben der Linderung von Kriegsfolgen im Land widmet.

Quang Tri liegt an der ehemaligen Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam. Es war die am schlimmsten umkämpfte Gegend und ist eine der am schwersten bombardierten Regionen der Geschichte. Chuck Scearcy: «Die Provinz glich einer Mondlandschaft.» Sie wurde mit Millionen Tonnen von Bomben, Landminen, Granaten und anderen Waffen terrorisiert. Das US-Verteidigungsdepartement schätzt, dass etwa zehn Prozent davon nicht explodierten. Seit Kriegsende verletzten oder töteten Blindgänger allein in der Provinz Quang Tri fast 8000 Menschen.

Dong Ha: Dokumentationszentrum des Project Renew, einer Organisation, die sich um die Räumung von Blindgängern kümmert. Demonstration eines Fundortes mit einem Blindgänger.

Eines der vielen Opfer, die überlebt haben, ist der Bauer Hoang Xuan Phuong. Der 50-Jährige erzählt: «Ich sammelte Steine vom Boden auf, um mir einen kleinen Schweinestall zu bauen. Plötzlich eine Explosion … Eine Mine … Sie riss mir die linke Hand weg … Das war ein grauenhafter Schock. Später wollte ich mich umbringen. So wollte ich nicht weiterleben.» Doch seine Familie half ihm, einen Weg zu sehen. «Ich fand sogar eine Frau, heiratete und habe heute zwei Kinder.»

Bauer Ton Hoang Xuan Phuong ist eines der vielen Tausend Blindgänger-Opfer in der Provinz Quang Tri. An der Wand in seinem Haus hängt eine Gitarre. Sie erinnere ihn an die schönen Tage, als er noch spielen konnte. Er frage seine Besucher jeweils, ob sie spielen können. « Spielen Sie?» Leider nein. So bleibt die Gitarre auch heute stumm.

Behinderte bringen Unglück

Bauer Phuong hat einen langen Leidensweg hinter sich. So mussten er und seine Familie grösstenteils selber für die teuren medizinischen Behandlungskosten aufkommen. Auch heute noch werden Opfer weitgehend allein gelassen. Der Staat habe kein Geld, heisst es. «Wir mussten viele unserer Kühe verkaufen, um die Spitalkosten zu bezahlen», sagt der Reisbauer. Er erzählt, wie er auch heute noch schmal durch muss, wie er sich viele Jahre und bis vor Kurzem nicht in der Öffentlichkeit zeigte.



Tan Phu 12.03.2015 - Project Renew. Unschädlich machen von Blindgängern aus dem Vietnamkrieg. Eine amerikanische Clusterbombe wird in die Luft gejagt. Photo Roland Schmid

Tan Phu 12.03.2015 – Project Renew. Unschädlich machen von Blindgängern aus dem Vietnamkrieg. Eine amerikanische Clusterbombe wird in die Luft gejagt. Photo Roland Schmid (Bild: Roland Schmid)

Er schämte sich wegen seiner Behinderung. Und auch deshalb, weil man ihn mied. Während des Frühlingsfestes, so erzählt er, machen die Leute heute noch einen Bogen um Behinderte. «Denn die Menschen glauben, ich bringe ihnen Unglück.» Und er selber, glaubt er ebenfalls daran? «Ja.» Es sei eben ein uralter Glaube, überliefert von Generation zu Generation. Eines der drei Kinder von Bauer Phuong, die fünfjährige Chau, ist cerebral gelähmt. «Meine Eltern glauben, ich sei schuld an der Behinderung ihrer Enkelin.»

Zurück zum Grundstück des Bauern Nguyen Van Ky, der heute Morgen die Streubombe entdeckte. Ein paar hundert Gramm Sprengstoff liegen neben dem Blindgänger, zugedeckt mit Sandsäcken, um Splitter einzudämmen. 150 Meter weiter weg, am anderen Ende des Zündkabels, läuft der Countdown. Renew-Teammitglieder in ihren Khakiuniformen versichern sich nochmals, dass niemand in der Nähe ist. Die Durchgangsstrassen sind gesperrt. Ein Sanitäter steht für Notfälle einsatzbereit. Drei … zwei … eins. Ein fürchterlicher Knall, eine mächtige Rauchwolke. Eine Streubombe weniger. In der leisen Hoffnung, dass zu den mehr als 15’000 Menschen, die in der Provinz Quang Tri kriegsbedingt behindert sind, möglichst niemand mehr dazukommt.

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Die TagesWoche widmet dem Ende des Vietnamkriegs vor 40 Jahren einen Schwerpunkt – mehr dazu im Dossier.

Hören Sie auch das Radio-Feature zum Vietnamkrieg: Freitag 15. Mai, 20 Uhr, «Passage», Radio SRF2 Kultur (Wiederholung; Sonntag, 17.5., 15 Uhr).

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