Der Vietnamkrieg politisierte eine ganze Generation – auch den Basler Peter Sutter. Vierzig Jahre nach Kriegsende besuchte er die Orte des Schreckens in Vietnam. Ein Reisebericht.
VIETNAM. Dieses Wort schrieb ich am Tag meiner Entlassung in grossen Lettern an die Zellenwand des Gefängnisses, in das ich wegen militärischer Befehlsverweigerung eingesperrt worden war. Es war im Frühjahr 1975. Die nordvietnamesischen Truppen hatten Südvietnam vollständig besetzt – die Amerikaner hatten den Krieg verloren.
Der zweite Vietnamkrieg, der 1964 mit dem offiziellen Eingreifen der USA begann, hat mein Weltbild geprägt – wie das vieler Leute meiner Generation. Der «amerikanische Krieg», wie ihn die Vietnamesen nannten, beeinflusste die westliche Kultur nachhaltig. Als 1965 die ersten amerikanischen Bomben auf nordvietnamesische Städte fielen, veröffentlichten The Who gerade ihre erste Single mit dem Titel «My Generation» – ein Protestsong.
Der Soundtrack des Widerstands
Die Gleichzeitigkeit des von den USA im Namen der Freiheit in Südostasien geführten Krieges und des Aufbruchs der 68er-Generation im Westen wurde zum bestimmenden Merkmal einer Epoche, in der vieles anders wurde. Die Beatles und die Rolling Stones gaben musikalisch den Takt an. Ihre Musik wurde zum Soundtrack einer Generation, die den alten Mief hinter sich lassen wollte.
Vor 40 Jahren endete der Vietnamkrieg. Seine Folgen sind bis heute sichtbar. Viele Gebiete sind vermint, und das von den USA eingesetzte Gift Agent Orange führt noch immer zu organischen Missbildungen. Ein Rückblick auf einen Krieg, der eine ganze Generation politisierte und die 68er-Bewegung begründete. Lesen mehr dazu in unserem Dossier.
Die historische Tragik dieser Zeit bestand damals für viele darin, dass über 500’000 Junge in einen ideologisch getriebenen Krieg nach Südostasien zogen, während im Westen Gleichaltrige gegen ebendiesen Krieg protestierten. Der kollektive Widerstand einer ganzen Generation – von konservativen Politikern gerne als «zweite Front» bezeichnet – sowie die erschütternden Bilder in der Presse, die damals praktisch unzensuriert aus Kriegsgebieten berichten konnte, besiegelten nebst der erstaunlichen Widerstandsfähigkeit der Vietnamesen die spätere Kriegsniederlage der USA.
Das Bild des nackten Mädchens, das schreiend vor den Rauchschwaden der Napalmbomben flüchtet und die Fotografie der Hinrichtung eines angeblichen Vietkong-Kämpfers auf offener Strasse durch den Polizeichef von Saigon sind zu Ikonen menschlichen Leids geworden.
Flucht vor dem Napalm: Dieses Bild ist als Ikone des Leids in die Geschichte eingegangen. (Bild: Nick Ut)
Mit diesen Bildern im Kopf und vielen anderen mehr aus den Filmen über diesen Krieg reiste ich im vergangenen November nach Vietnam, um erstmals jene Orte zu besuchen, die mich damals so sehr beschäftigten.
Eine Rast beim «B-52»-See
Der erste Tag im Land weckt noch wenige Erinnerungen an den grossen Krieg. Der per Mail organisierte Abholdienst vom Flughafen Noi Bai klappt wunderbar. Nach einer halbstündigen Fahrt erreichen wir unser Hotel mitten in der Altstadt von Hanoi.
Schon unterwegs nehmen wir den zunehmend dichteren Verkehr wahr, bei jedem Stopp ist unser Wagen umringt von Motorrollern. Wir staunen über die maximale Auslastung der Zweiradfahrzeuge. Viele transportieren ganze Familien, ein Kind stehend, ein Kind eingeklemmt zwischen zwei Erwachsenen.
Bei der anschliessenden Entdeckungstour zu Fuss lernen wir die Raumnutzung und den Verkehr nach vietnamesischer Art kennen. Die engen Strassen in der City lassen kein Parkieren von grösseren Fahrzeugen zu. Die im rechten Winkel zur Strasse parkierten Motorroller auf den Trottoirs zwingen die Fussgänger auf die Strasse, zumal der restliche Trottoirraum meistens entweder Handwerkern als Arbeitsplatz dient oder von kleinen Garküchen besetzt ist.
Skurrile Szenerie mitten in Hanoi: Überreste eines B-52 Bombers im Hu-Tiep-See. (Bild: Roland Schmid)
Bald haben wir genug von Verkehrsgewusel und Huplärm und begeben uns an den See Hoam Kien, der am Rand der Altstadt gelegen ist. Hier finden jeden Abend öffentliche Tai-Chi-Übungen statt. Und natürlich wollen wir einen anderen berühmten See sehen: den Hu Tiep.
Hier werden wir das erste Mal mit einem Relikt des Krieges konfrontiert. Aus dem Wasser ragt das Wrackteil eines abgeschossenen amerikanischen B-52 Bombers.
Am 19. Dezember 1972 schossen die Nordvietnamesen das riesige Flugzeug über Hanoi ab. Der «B-52-See» im Ba-Dinh-Distrikt ist zur Touristenattraktion geworden. Die Wrackteile sind nachts beleuchtet und geben eine surreale Skulptur ab.
In den kommenden Tagen machen wir uns auf die Spuren des Krieges. Die geführte Tour in die entmilitarisierte Zone auf dem 17. Breitengrad startet in der alten Kaiserstadt Hué. An der Genfer Indochina-Konferenz von 1954 wurde Vietnam entlang dieses Breitengrades in einen unabhängigen Norden und einen Süden unter französischem Einfluss geteilt.
Wir fahren Richtung Laos, vorbei am Rock Pile, einer ehemaligen Beobachtungsstation der Amerikaner. Weiter hinten im Tal markiert ein Denkmal einen Streckenabschnitt des Ho-Chi-Minh-Pfades.
Das grösste Schlachtfeld des Vietnamkriegs
Unser Ziel ist aber das Hochplateau von Khe Sanh. Die 1962 erstellte Landepiste wurde im Laufe des Krieges als befestigtes Basislager für US-Elitetruppen ausgebaut. Im Januar 1968 geriet das Camp im Rahmen eines Ablenkungsmanövers der geplanten Tet-Offensive unter Dauerbeschuss der nordvietnamesischen Armee (NVA). Daraus entwickelte sich eine der grössten Schlachten des Vietnamkrieges.
Die ehemalige Basis der US-Marines bei Khe Sanh ist heute eine Touristenattraktion. Hier fand 1968 die grösste Schlacht des Vietnamkriegs statt. (Bild: Roland Schmid)
Erwähnung findet der umkämpfte Ort Khe Sanh auch im Song «Born In The U.S.A.» von Bruce Springsteen. Um eine Niederlage ihrer Truppen zu verhindern, warfen die Amerikaner 100’000 Tonnen Bomben und 10’000 Tonnen Napalm auf das Hochtal.
Die Bilanz der über zwei Monate dauernden Schlacht waren 10’000 Tote auf Seiten der NVA, 500 tote US-Soldaten, eine unbekannte Anzahl von Zivilpersonen sowie eine total zerstörte Landschaft. Unsere Reiseführerin erwähnt, dass es im ganzen Tal bis heute keine Tiere mehr gebe.
Auf dem Gelände dokumentiert ein Museum die Kriegsereignisse. Zu sehen sind auch Flugzeuge, Bombenschrott und die ehemaligen Befestigungsanlagen der US-Armee. Der Anblick eines Riesenhelikopters in dieser Umgebung hat immer noch etwas Bedrohliches, auch wenn seine Rotoren nicht mehr drehen und die Motoren nicht mehr knattern.
US-Transportflugzeug Hercules C-130 auf der ehemaligen Basis der US-Marines. Die Schlacht um Khe Sanh fand vom 21. Januar bis 9. Juli 1968 statt. (Bild: Roland Schmid)
Für die jüngeren Teilnehmer der Tour ist ein Panzer ein willkommenes Kletterspielzeug und Selfie-Sujet. Leid tun mir die unvermeidlichen Souvenirverkäufer mit ihren Kriegserinnerungsstücken. Sie verstehen nicht, warum ich ihnen als vermeintlicher Amerikaner nichts abkaufen will. Dafür kaufen wir am Eingang als sinnvollere Alternative ein Paket Arabica-Kaffeebohnen, die aus den umliegenden Kaffeeplantagen stammen.
Nun geht die Reise auf derselben Strecke zurück zum nächsten Kriegsschauplatz. Die liebliche Landschaft mit den sanften Hügeln und der sattgrünen Vegetation zeigt äusserlich wenig Spuren von den massiven Bombardierungen des Krieges. Vielleicht sind aber einige Lichtungen nicht der Forstwirtschaft, sondern den Napalm-Abwürfen geschuldet. Reiseführer warnen denn auch vor Ausflügen ohne Führung in dieser Gegend. Zu gross ist hier die Gefahr von unentdeckten Blindgängern.
Fischerdorf im Untergrund
Unsere nächste Station ist Vinh Moc, ein Fischerdorf im Untergrund. Eine dem Dorf vorgelagerte Insel im Südchinesischen Meer wurde von den Amerikanern als wichtige Station für den Waffennachschub des Vietkongs identifiziert. Aus diesem Grund war der Küstenabschnitt Ziel von Flächenbombardierungen durch B-52-Flugzeuge, die sämtliche Fischerdörfer zerstörten.
Die Bewohner von Vinh Moc verlagerten ihr Dorf unter die Erde in ein System von Tunneln, das auf unterschiedlichen Ebenen eine Gesamtlänge von 40 Kilometern ausweist. Darin befand sich die ganze Infrastruktur, die für das tägliche Leben von Wichtigkeit war: Krankenstationen, Versammlungsräume, Schulen und Sanitäranlagen.
Bis zum Rückzug der Amerikaner im Jahre 1972 spielte sich das Leben der Dorfbevölkerung in diesem Tunnelsystem ab. 17 Kinder sollen dort zur Welt gekommen sein. Einer Familie stand lediglich ein zwei Quadratmeter grosser Raum zur Verfügung. Für die Besucher von heute werden in einem 300 Meter langen Teilstück exemplarisch einzelne Ausschnitte des damaligen Lebens gezeigt.
Bis zum Rückzug der Amerikaner im Jahre 1972 spielte sich das Leben der Dorfbevölkerung von Vinh Moc in diesem Tunnelsystem ab. (Bild: Roland Schmid)
Es braucht Überwindung, die steilen Treppenstufen hinabzusteigen und in den schwach beleuchteten Gängen gebückt die Hinterlassenschaften der ehemaligen Bewohner zu besichtigen. Und man staunt über die Raffinesse dieses Systems und fragt sich, mit welchen Mitteln und mit welchem Zeitaufwand die Dorfbewohner wohl die Gänge in den harten Laterit-Boden gegraben haben.
Nach einem weiteren Abstieg gelangt man in einen Gang, der zu einem von aussen gut getarnten Ausgang direkt ans Meer führt. Mit Erleichterung atmet man die frische Luft ein und freut sich am Tageslicht. Ähnlich muss es wohl den damaligen Bewohnern in einer Gefechtspause zumute gewesen sein.
Auf den Feldern des Todes
Letzte Station unserer Tour ist der Nationalfriedhof Truong-Son, genannt nach der Einheit, die auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad zum Einsatz kam. Rund 10’000 nordvietnamesische Soldaten fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Auf den weissen Grabsteinen steht die Inschrift «liêt sĩ» für Märtyrer, einige Grabstätten sind leer und tragen den Namen eines der 30’000 als vermisst geltenden Soldaten.
Soldatenfriedhöfe lösen beklemmende Gefühle aus. Spontan fällt mir eine Zeile aus einem Lied von Wolf Biermann ein: «Soldaten seh’n sich alle gleich, lebendig und als Leich.» Im Vietnamkrieg fielen eine Million nordvietnamesische und rund 60’000 US-Soldaten sowie zirka zwei Millionen Zivilpersonen.
Starke Nerven fordert auch der Besuch des Kriegsmuseums in Ho-Chi-Minh-Stadt. Hier werden die Schrecken des Krieges schonungslos mit erschütternden Bildern und Exponaten dokumentiert. Im Aussenbereich ist die Hinterlassenschaft der amerikanischen Kriegsmaschinerie zu sehen. Eroberte oder zurückgelassene Panzer, Hubschrauber, Kampfbomber und Artilleriegeschütze stehen in Reih und Glied.
Ho-Chi-Minh-City: Im Kriegmuseum spielen behinderte Musiker auf – späte Opfer des Agent-Orange-Gifteinsatzes der Amerikaner. (Bild: Roland Schmid)
Auf der linken Seite des Eingangsbereiches sind nachgebaute Gefängniszellen zu sehen. Foltermethoden und Verhörpraktiken der US-Armee sind aufgelistet und weisen mit den entsprechenden Geräten auf die grausamen Praktiken hin.
Im Inneren des Museums werden auf drei Stockwerken die Geschichte und die Folgen des Vietnamkrieges anhand von Dokumenten und Kriegsrelikten dargestellt. Im ersten Stock widmet sich ein Abteil dem Thema Agent Orange, in einem anderen Abteil werden Greueltaten wie jene von My Lai gezeigt, wo US-Soldaten die wehrlose Bevölkerung eines ganzen Dorfes ausgelöscht hatten.
Selbst wenn man meint, schon vieles über diesen Krieg zu wissen, übertreffen die gezeigten Bilder jedes Vorstellungsvermögen. Die Stimmung hier ist gedämpft, manche Besucherinnen und Besucher können ihre Tränen nicht zurückhalten.
Poster aus aller Welt und in allen Sprachen bezeugten Solidarität mit den Vietnamesen.
Als tröstliche Gegenposition mag die Ausstellung im Erdgeschoss dienen. Sie zeigt Poster und Fotos der weltweiten Antikriegs-Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre. Die vielen Plakate in allen Sprachen zeugen von der Solidarität mit den Vietnamesen, die immer wieder gegen übermächtige Gegner für ihre Unabhängigkeit kämpfen mussten. Die Franzosen kapitulierten 1954 in Dien Bien Phu, die USA und Südvietnam 1975 in Saigon.
Vor diesen Exponaten stehend, erinnere ich mich an diese fernen Jahre zurück. Damals, als die Kunde des vietnamesischen Sieges zu uns jungen Menschen im Westen gelangte, schien plötzlich alles möglich.
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Peter Sutter, 66, war Wirt des «Goldenen Fasses» in Basel und in den letzten Jahren freier Mitarbeiter des Seminars für Soziologie der Uni Basel (zurück zum Text-Anfang).
Die TagesWoche widmet dem Ende des Vietnamkrieges vor 40 Jahren einen Schwerpunkt – mehr dazu im Dossier.