Leben ohne Würde

An den Rändern Europas leidet die Jugend unter der Krise. Bulgarien ist bislang durchgekommen. Doch die Lage vor allem für die junge Roma-Bevölkerung ist nirgends schwieriger. Eine Reportage aus dem Schwarzmeer-Ferienort Varna im Sommer 2012.

Happyhour am Goldstrand: Hunderte vorwiegend Deutsche Jugendliche tanzend im Club «Das Rote Pferd». (Bild: Stefan Bohrer)

An den Rändern Europas leidet die Jugend unter der Krise. Bulgarien ist bislang durchgekommen. Doch die Lage vor allem für die junge Roma-Bevölkerung ist nirgends schwieriger. Eine Reportage aus dem Schwarzmeer-Ferienort Varna im Sommer 2012.

Zukunft ist ein grosses Wort in einer Stadt wie Varna. Es ist ein Wort aus der Vergangenheit. Es flirrte durch die Köpfe der Menschen in den Zeiten der Wende, als aus Bulgarien ein westlicher Staat wurde, und dann erklang es wieder, als das Land 2007 in die Europäische Union aufgenommen wurde. Heute ist es ein Versprechen, dessen die Leute in Varna überdrüssig geworden sind.

Um etwas über Anis Zukunft zu erfahren, steigt man in Varna in ein Taxi. Vom Stadtzentrum dauert es gute 20 Minuten bis zum Strassenstrich. Über die neue Brücke nach Asparuchovo geht die Fahrt aus den Siedlungen hinaus ins offene Land. Sobald die Strasse keine Kurve mehr macht, links und rechts das dichte Buschland lichtem Wald weicht, sitzt sie auf einem blauen Plastikschemmel. Ani ist 27 Jahre alt, hat vier Kinder und im Wald bei Varna verdient sie das Geld für ihre Zukunft, vielmehr die ihrer Kinder.

Hinter ihr führt der Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Ein paar Meter nur und der Waldboden ist belegt mit zahllosen geöffneten Kondompackungen und gebrauchten Papiertaschentüchern. Es sind die Überbleibsel verrichteter Lust. «Jetzt habt ihr bestimmt ein schlechtes Bild von Bulgarien», sagt sie und lächelt verlegen. «Ich packe den Abfall immer in eine Plastiktüte und nehme ihn mit.»
Ani erzählt ihre Geschichte. Sie arbeitet eigentlich in Frankfurt, sie kellnert dort, sagt sie. Einen Monat im Jahr, im Sommer, kehrt sie zurück zu ihrer Familie nach Varna, nicht für Ferien, die sind nicht vorgesehen in ihrem Leben. Sie schafft an, um ihre Kinder ernähren zu können.

Soll sie in die Schweiz kommen?

Sex mit Ani kostet 20 Euro die halbe Stunde. Andere Arbeit finde sie nicht, sagt sie. An guten Tagen hat sie 20 Kunden, an schlechten auch nur fünf oder sechs. Bislang ist es kein guter Sommer. «Es gibt viel Konkurrenz, die Krise …», Ani wiegt den Kopf hin und her. Eine Arbeitskollegin ist heute nach Griechenland weitergezogen. «Soll ich das auch tun?» – «Soll ich in die Schweiz kommen, um zu arbeiten? Ich kann sieben Sprachen, könnt ihr mir einen Job vermitteln?» Ani zeigt ein Bild, das sie aus ihrer Handtasche zwischen Kondomen hervorzieht: Sie und ihre neun Monate alte jüngste Tochter Angela.

Ani setzt sich wieder auf ihren Schemmel. Sie posiert verführerisch, als ein Auto hinter der Kurve hervorbiegt. Es fährt durch. Sie setzt sich, sie schaut in den Wald hinein, sie denkt nach. Sie sagt: «Noch ein paar Tage, dann kaufe ich mir ein Ticket zurück nach Frankfurt.» Vielleicht wird dort alles besser.

20, 30 Frauen sitzen an normalen Sommertagen auf ihren Plastikhockern am Strassenstrich bei Varna und warten. Am Goldstrand, ein paar Kilometer nördlich von Varna, sind es unzählige. Sie stehen in der Nacht vor dem Club Bonkers, der von der Mafia betrieben werden soll. Der Goldstrand ist das Gesicht Bulgariens, heisst es. Eine Reihe Hotels, eine Reihe Clubs und Restaurants, eine Reihe Strand.

Der Goldstrand ist weisse Zone. Am Eingang der Hotelmeile stehen Polizisten, die kontrollieren, wer rein- und rauswill. Romas sind nicht geduldet. Romamädchen schon – sowie Tausende junge Deutsche und Schweizer, Skandinavier und Engländer, die sich von der durchgehenden Happyhour in Clubs wie dem «Roten Pferd» anlocken lassen. Der Goldstrand ist die grosse neue Versprechung. Er ist das neue Mallorca. Die Drinks sind billiger, der Sex auch.

Partynacht am Goldstrand

Im «Roten Pferd» gibts dienstags und samstags Schaumparty. Mittwochs gibts Markus Becker. Becker hat der Disco den Namen seines grössten Hits verliehen. «Ballermann am Balkan» verspricht er auf der Werbung vor dem Eingang, und er verspricht nicht zu viel. 500, vielleicht 700 junge Deutsche tanzen sich weg, stehen taumelnd auf wackligen Tischen, ziehen ihre Schuhe aus beim Schuhsong, lassen ihre T-Shirts über dem Kopf kreisen bei Beckers anderem Hit «Helikopter». «Und jetzt alle», schreit der DJ beim Warmup: «Deutschland, Deutschland, Deutschland!»

Sabrina Fleischmann aus Ingolstadt streckt die Arme in die dicke Disco-Luft. Die 18-Jährige hat gerade ihr Abitur gemacht, jetzt verbringt sie hier einen Zwischenstopp auf dem Weg zur Uni und zur Karriere. Mit fünf Freundinnen ist sie gekommen, es hat sich rumgesprochen, dass es am Goldstrand dämmernd langsame Strandtage und euphorische Nächte inklusive gibt.

Während Beckers Nummern bereits rauf- und runtergespielt werden, damit sie nachher sitzen, wenn seine Show startet, sitzt der Entertainer draus­sen beim Cappuccino. Becker ist gut drauf. Heute ist RTL 2 da, der Sender filmt für eine neue Folge Ballermann-Hits. Nach der Ausstrahlung werden wieder mehr kommen, weshalb Becker glaubt, es sei nicht unwesentlich sein Verdienst, dass Mädchen wie Sabrina Fleischmann nun nach Bulgarien chartern.

«Hier gibts keine Finanzkrise!»

«Als ich hier angefangen habe, gab es nur Russen und Skandinavier», sagt er. 2004 hat er am Goldstrand investiert und den Partystadl mitaufgebaut. Jede zweite Woche tritt er auf, Mallorca ist kein Thema mehr. «Es ist wichtig, dass wir hier Gas geben, der Zuwachs ist enorm.» Becker lacht sein Partylachen: «Hier gibts keine Finanzkrise!» Bulgarien profitiert von den niedrigsten Lohnkosten der EU, ein Barmädchen verdient 200 Euro im Monat.

Becker war früh da, und jetzt brummt das Geschäft: «Das ist Aufbauhilfe, was wir hier leisten. Mensch, schau doch, wie hier die Leute rumrennen. Das hat ja was Soziales, wir geben den jungen Bulgaren Arbeit.»

Vielleicht ist es kein Zufall, dass mit Markus Becker ein Ausländer an das Land und die Stadt glaubt, Potenziale sieht, wo andere zweifeln. Denn Becker ist nicht der einzige Deutsche, der der Zukunft in Varna eine Gestalt geben will.

Dazu hat sich auch Frank Abbas seine Gedanken gemacht. Schon ihn zu finden ist komplizierter. Man muss dorthin gehen, wo von der Goldgräberstimmung an der Strandmeile nichts mehr zu spüren ist. Wo verwitterte Plattenbauten die Tristesse jahrzehntelangen Stillstands ausatmen. Man muss in die Aus­senbezirke fahren, in ein Viertel namens Vladislavovo. Dort, am Fuss eines Hügels liegt die Machla, der Slum, in dem Abbas sein Haus hat.

Ein Leben im Roma-Ghetto

In der Machla leben rund 3000 Roma, es ist eines der besseren Ghettos in Varna mit seinen 300’000 Einwohnern, wovon rund 70’000 Roma sind. Abbas ist in einem früheren Leben als Speditionskaufmann nach Varna gekommen, dann, 2005, hat er auf einen Schlag Schluss damit gemacht. Er hat seine Anzüge verbrannt und ist in die Machla gezogen. Weil er das Elend in dieser einseitig boomenden Stadt nicht begreifen konnte, sagt er.

Die Machla besteht aus zwei Teilen, dem wohnlicheren unteren mit schachtelartigen Häusern und auffälligen Mafiavillen und einer Hüttensiedlung auf einem früheren Fussballfeld, dem Dschungel, wie die Roma sagen, weil dort nichts gilt, was den Kampf ums Überleben einer menschlichen Ordnung unterwirft.

Im Dschungel leben viele vom Land Zugezogene. Am Rand der Siedlung, wo verwerteter Restmüll die struppige Wiese bedeckt, brennen Kinder die Plastikisolierung von Kupferdrähten weg. Für ein Kilogramm Kupfer erhalten sie ein paar Franken. Für ein Kilo Plastik 20 Rappen, für Papier weniger. Es ist ihr täglicher Broterwerb, ihr Versprechen für eine Mahlzeit und ein paar Zigaretten. «Mit drei Jahren wirst du als Romakind oft von deinen Eltern auf die Strasse geschmissen», sagt Abbas. «Dann musst du für deinen Lebensunterhalt selber sorgen.»

Sie fahren die Kinder in die Schule

Er sitzt in einer seiner Stationen im Viertel, einem mit Holz ausgekleideten Versammlungsraum. Er hat die jungen Mitarbeiter seiner kleinen NGO zusammengetrommelt, die vorwiegend von privaten Spendengeldern auch aus der Schweiz finanziert wird. Abbas’ Leute sorgen dafür, dass gegen 200 Schüler aus dem Viertel jeden Morgen in nahe Schulen gefahren werden. Auf dem Land draus­sen richten sie einen Hof her, um dereinst ein Leben weg vom Ghetto, ausserhalb des geschlossenen Systems auszuprobieren; zudem steht Abbas in Kontakt mit deutschen Firmen, die junge Roma einstellen wollen.

Es ist sein Kampf für eine Zukunft der jungen Generation im Viertel. Er führt ihn von Familie zu Familie, denen er erklären muss, wieso sie die Kinder in die Schule statt auf die Müllhalde schicken sollen. Es ist ein Kampf, der immer wieder in Auseinandersetzungen mündet mit den Strukturen, die Teil des Ghettos sind und den anderen jeden Tag vormachen, wie man viel leichter zu Wohlstand kommt als durch Arbeit: mit Drogenhandel, mit Prostitution und Diebstahl.

Bis zu 90 Prozent Arbeitslosigkeit

Doch es wird besser, Schritt für Schritt. Ainu* ist so ein kleiner Schritt. Der 21-Jährige hat sich von seinem Clan losgesagt, der in Mafiakreisen sein Geld verdiente. Er arbeitet jetzt für Abbas und hat dafür die Regeln der NGO akzeptiert: keine Zwangsheirat, keine Drogen, keine Kriminalität. Und er verfolgt die gleichen Ziele und Ideen. Dass die Zukunft nur in den eigenen Händen liegen kann, in der Selbsthilfe.

Noch ist es eine Arbeit ins Ungewisse. Aber es ist eine Alternative in einer Lebenssituation, die bislang keine Alternativen kannte. «Wir haben nur eine Zukunft, wenn man uns Arbeit gibt», sagt Ainu. «Aber die Bulgaren geben uns keine Arbeit, die wollen uns nicht in ihren Betrieben.» Abbas schätzt, dass 90 Prozent der Erwachsenen in der Machla arbeitslos sind.

Und doch geht es den Roma in der Machla vergleichsweise gut. Am schlimmsten sind die Zustände in der Makzuda, dort wo Ainus Clan seine Heimat hat. Mit Sandro*, der einen erfolgreichen Fuhrbetrieb besitzt, ist eine Annäherung an den Slum möglich.
Mehr als die Hälfte der Bewohner soll heroinabhängig sein, gesicherte Informationen sind nicht zu bekommen. Noch nicht einmal die bulgarische Polizei wagt sich in den Slum.

Die Roma nennen das Gebiet No Name Land, weil dort die Papierlosen leben: Menschen ohne Geburtsurkunde, ohne Vergangenheit und staatliche Garantien. Das Gebiet wird von der Mafia kontrolliert, an den Einfallstrassen stehen Posten, die keinen hereinlassen, der dort nichts zu suchen hat. Reingehen ist unmöglich, reinblicken schon eine Gefahr.

Drohen und Gestikulieren

Es bleiben Augenblicke für Fotoaufnahmen auf der anderen Seite der Müllkippe, die das Viertel begrenzt. Sofort ist eine Reaktion zu sehen: Gestikulieren und Drohen in der Makzuda, Autos setzen sich in Bewegung. Zeit zu verschwinden. Was es zu verbergen gilt, erzählt Sandro: «Das grosse Geschäft im Moment sind Adoptionen. Ein Neugeborenes kostet 5000 Franken. Die Hälfte des Preises geht an die Familie. Dazu wird die Mutter über die griechische Grenze in Spitäler gebracht, wo bezahlte Ärzte die Entbindungen vornehmen. Sind die Kinder gesund, werden sie über Agenturen an Paare in ganz Europa verkauft.»

Im No Name Land ist ein Kind nicht weniger Ressource als ein Kilo Plastik. Ein Leben, das mit der Stunde der Geburt nur einem Zweck dient: Geld für die Familie zu beschaffen. Wie kann das eine Jugend sein in Bulgarien im Jahr 2012, einem Land in der Wertegemeinschaft der Europäischen Union?

Doch die EU stösst sich durchaus am Elend in Varna und anderen Städten, mehr jedenfalls als der bulgarische Staat. Die EU finanziert ein nationales Schulprojekt, das den Analphabeten unter den Roma einen Abschluss ermöglichen soll. Sie bezahlt jedem Schüler zwei Euro am Tag, damit er zur Schule kommt, und nochmals 25 nach erfolgreicher Diplomprüfung. Und sie beschäftigt Idealisten, wie die junge Lehrerin Silvia Bakaova.

«Sie kennen nicht mal Kugelschreiber»

«Meine Freunde verstehen nicht, was ich hier mache.» Bakaova lacht in das von der Sonne aufgeheizte Klassenzimmer. Die 25-Jährige bringt Roma das Lesen und Schreiben bei. «Die ersten vier Jahre sind sehr, sehr, sehr schwierig», sagt sie. «Viele sind innerlich ein bisschen zerstört. Einige verstehen nicht mal, wie ein Kugelschreiber funktioniert. Bildung ist für sie nicht wichtig. Sie gehen nach Hause, und ihre Mutter, die wichtigste Autorität in ihrer kleinen Welt, fragt sie, warum sie Bulgarisch lernen, obwohl sie keine Bulgaren sind. Auf wen hören sie – auf mich oder ihre Mutter?»

So ist Bakaovas Klasse fast leer, obwohl es mehr zu verdienen gibt als beim Müllsammeln und das EU-Programm beliebig viele Schüler finanzieren würde. Bakaova sieht trotzdem Sinn in ihrer Arbeit: «Ich tue das, weil ich Bulgarien liebe. Es wird immer mehr Roma hier geben, und ohne Bildung handeln sie nach ihren Gesetzen und stürzen das Land ins Chaos. Wenn du einen davor bewahrst, im Gefängnis zu landen, dann gewinnst du. Ich will nicht alle retten.»

Die Zivilgesellschaft regt sich in Varna. Man kann auch Neno Belchev fragen, einen jungen, international erfolgreichen Künstler, der seit Jahren vor allem politische Kunst macht, um den herrschenden Verhältnissen entgegenzuwirken. Die Wahrscheinlichkeit, dass damit Varna mehr wird als ein Etablissement für Westeuropas Partyjugend und der Weg der jungen Generation nicht auf Anis Waldstück endet oder im Ghetto, ist klein. Aber das ist schon viel.

* Namen von der Redaktion geändert

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.07.12

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