«Lehrer haben mehr Freiheiten, als sie denken»

Die Lernforscherin Elsbeth Stern über sinnvolle und unsinnige Reformen und über die Schule, wie sie sein sollte.

Wie soll all das Wissen vermittelt werden? (Bild: Illustration: Domo Löw)

Die Lernforscherin Elsbeth Stern über sinnvolle und unsinnige Reformen und über die Schule, wie sie sein sollte.

(Bild: zVg)

Frau Stern, mehrere Reformen wie Harmos und die Umsetzung des Lehrplans 21 stehen an. Dazu sind wir mitten drin in der Realisierung der integrativen Schule. Braucht es all diese Reformen?

Ich denke schon, dass man immer am Ball bleiben, immer wieder hinterfragen muss. Die Schule ist wie ein Garten, man muss immer wieder etwas daran machen, damit alles gut gedeiht.

Aber gleichzeitig heisst es sparen, sparen. Wie soll das gehen?

Na ja, die Schweiz steht, was finanzielle Ressourcen angeht, immer noch sehr gut da.

In den beiden Basel sind die neuen Stundentafeln vorgestellt worden. Demnach sollen die naturwissenschaftlichen Fächer gestärkt werden. Auf Kosten der musischen. Ist das nicht ein Rückschritt? Vor einigen Jahren hiess es noch, die musische Erziehung müsse im Sinne einer ganzheitlichen Bildung gestärkt werden.

Eine Stärkung der Naturwissenschaften ist uneingeschränkt zu begrüssen und für eine Wissens- und Informationsgesellschaft unabdingbar. Musik wird ja nicht ganz gestrichen.

Aber es wird deutlich weniger sein als gesamtschweizerisch empfohlen. Zudem wird es in der Oberstufe nur noch Wahlfach sein. Respektive der Schüler wählt zwischen bildnerischem Gestalten und Musik.

Das finde ich nicht so schlimm, es gibt ja viele ausserschulische Möglichkeiten, wenn ein Kind wirklich an Musik interessiert ist. Es geht doch um die Frage: Wo muss man Schüler zu ihrem Glück zwingen? Da spielt die Naturwissenschaft schon eine grössere Rolle. Zum Musikunterricht zwingen, nur weil die Eltern das toll finden, bringt hingegen gar nichts.

Nicht alle Kinder haben die Möglichkeit, ausserschulisch zu musizieren.

Ich spreche jetzt auch eher von der Sekundar- und Gymnasialstufe. In der Primarschule sollte Musikunterricht stattfinden, jedes Kind sollte einmal diese Chance haben. Sonst kann es gar nicht herausfinden, ob ihm das Freude macht oder nicht.

Auch Informatik soll als eigenes Schulfach abgeschafft und in den allgemeinen Unterricht integriert werden. Wie passt das zur Stärkung der Naturwissenschaften und Anpassung an die modernen Herausforderungen?

Damit vergibt man sich wichtige Chancen. Durch Programmieren können Kinder viele wichtige und breit anwendbare Kompetenzen erwerben, wie beispielsweise logisches Denken und genaues Arbeiten. Leider wird häufig Etikettenschwindel betrieben: Statt zu programmieren, lernen die Kinder den Umgang mit Textverarbeitungs- und Präsentationsprogrammen. Das ist nicht Informatik.

Politik und Wirtschaft versuchen immer wieder Einfluss auf die Gestaltung der Schule zu nehmen. Ist das richtig, oder sollte das gänzlich der Wissenschaft, also der Lernforschung, s0 überlassen sein?

Welche Inhalte auf dem Stundenplan stehen sollten, muss in einem gesellschaftlichen Diskurs geklärt werden, also auch von Politik und Wirtschaft. Wie diese Inhalte lernwirksam vermittelt werden können, weiss die Lernforschung.

Und bestimmt die Lernforschung letztlich auch die Inhalte?

Nein, Sie haben mich falsch verstanden. Die Inhalte werden im gesellschaftlichen Diskurs festgelegt, wir von der Lernforschung bilden die Lehrkräfte aus, damit diese die Inhalte auch vermitteln können.

Was halten Sie von Frühfranzösisch und Frühenglisch, die eingeführt werden sollen? Macht das Sinn?

Nur wenn die Sprachen im natürlichen Umfeld der Kinder eingebettet sind. Wenn sie auch zu Hause gesprochen werden. Oder in einer zweisprachigen Stadt wie Biel. Ein Kind muss die Möglichkeit haben, eine Sprache im natürlichen Kontext anzuwenden, sonst wird es sie nicht lernen. Zumal viele Kinder von Zuwanderern schon genug damit zu tun haben, Deutsch zu lernen.

Eine weitere Neuerung ist der «interdisziplinäre Unterricht», keine Geschichts- oder Geo­grafiestunden mehr, sondern projekt- und themenbezogener Unterricht.

Schülern rechtzeitig zu vermitteln, dass Fächer kein Selbstzweck sind, ist wichtig. Allerdings gilt für jede Schulstufe: Eine Lehrperson kann nur lernwirksamen Unterricht erteilen, wenn sie die Inhalte selbst souverän beherrscht. Eine Lehrperson sollte sich deshalb nur auf interdisziplinären Unterricht einlassen, wenn die fachliche Expertise gegeben ist.

Haben wir diese Lehrpersonen?

Nehmen wir das Beispiel Flussrevitalisierung, ein sehr spannendes Thema: Selbstverständlich kann nun nicht ein Lehrer, der zwanzig Jahre lang ausschliesslich Geografie unterrichtet hat, plötzlich top in Biologie sein. Der interdisziplinäre Unterricht erfordert Zusammenarbeit der Lehrkräfte, dann ist das eine gute Sache.

Viele Lehrpersonen sind zunehmend frustriert, manche fühlen sich ausgebrannt. Nicht zuletzt auch wegen der vielen Reformen. Was läuft falsch?

Lehrpersonen haben mehr Freiheiten, als sie denken. Wenn sie guten, das heisst lernwirksamen Unterricht machen, können und sollten sie der Reformwut selbstbewusst entgegentreten.

Kann man die Lehrerklagen als Jammern auf hohem Niveau bezeichnen?

Manchmal ja. Ich würde mich hüten, ein Pauschalurteil abzugeben, ich kenne viele tolle Lehrerinnen und Lehrer. Aber es gibt halt schon auch einige, die das nur geworden sind, weil ihnen nichts anderes eingefallen ist. Und die schieben dann die Schuld an ihrer Unzulänglichkeit und Unzufriedenheit gerne auf andere ab – auf die Schüler, die Eltern, die Rahmenbedingungen. In Finnland hat der Lehrberuf einen sehr hohen Stellenwert, mit hohen Anforderungen, da sieht es anders aus als in Deutschland und der Schweiz.

Und die Kinder: Sie freuen sich in der Regel wie verrückt auf den ersten Schultag, sie sind von Natur aus wissbegierig. Zwei Jahre später finden viele die Schule nur noch doof. Rund die Hälfte der Schweizer Primarschulkinder sind in einem Stützunterricht oder in einer Therapie. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Intelligenz ist ungleich verteilt. Dass Kinder unterschiedlich schnell lernen, sollte man nicht als Krankheit sehen, sondern als eine Herausforderung im Rahmen der Normalität. Statt teuren Therapien und individuellem Stützunterricht könnte man vieles durch zusätzliche Übungsgelegenheiten abfangen, die in den normalen Schulablauf integriert sind.

Das würde mehr Zeit brauchen, ist die da?

Die Frage ist, wie man die Schule organisiert. Mit dem Fächerunterricht im 45-Minuten-Takt geht das nicht. Das ist nicht mehr zeitgemäss und läuft letztlich auf ein Absitzen der Schulstunden hinaus. Wissen vermitteln heisst nicht pauken, sondern Erklärungen für Dinge bieten, die an die Erfahrungswelt der Schüler anknüpfen, aber über diese hinausgehen. Die abstrakten Begriffe Dichte und Auftrieb sollten an der Frage «Warum schwimmt ein schweres Schiff aus Stahl, obwohl ein kleines Stück Stahl untergeht?» aufgehängt werden. Für schwierige Themen sollte mehr Zeit zur Verfügung stehen. Am besten wäre das Modell Tagesschule, wo die Kinder die Schule als Lebensort begreifen. Da ist genügend Raum und Zeit, nachzufragen, sich in etwas zu vertiefen – und zu üben, wenn man etwas nicht so gut kann.

Dann kommt gleich der Einwand: viel zu teuer.

Man kann mit Hilfskräften arbeiten. Es gibt genügend Studenten oder auch Rentner, die mit einem Kind lesen üben können. Das müssen nicht teure Lehrpersonen sein, bei diesen liegt natürlich die Verantwortung. Aber sie müssen nicht alles selber machen. Der Chirurg putzt ja den Operationssaal auch nicht selbst.

Trotz neun Jahren Schulpflicht gibt es den Illettrismus, das heisst, viele Schulabgänger können weder schreiben noch lesen, manche kaum rechnen. Diese Schulabgänger finden auch keinen Anschluss in der Berufswelt. Liesse sich das besser machen?

Intelligenz folgt der Normalverteilung. 15 Prozent der Bevölkerung bringen sozusagen von Natur aus deutlich ungünstigere geistige Voraussetzungen mit als der Durchschnitt. Diese Menschen brauchen keine therapeutischen Massnahmen, sondern mehr Zeit als andere, um akademische Grundfertigkeiten zu erwerben. Während es noch vor einigen Jahrzehnten Arbeitsmöglichkeiten für weitgehend illiterate Menschen gab, ist das heute nicht mehr der Fall. Darauf muss sich unser Bildungssystem einstellen.

Wie?

Indem man nicht immer so tut, als wären Lernprobleme eine Katastrophe. Mit drei, vier Schülern pro Klasse, die Lernschwierigkeiten haben, muss man rechnen. Wenn man darauf eingestellt ist, kann man auch schneller reagieren und, wie bereits gesagt, halt intensiv mit ihnen üben. Das sollte ohne grosse und aufwendige Diagnostik möglich sein.

Es heisst zuweilen auch, dass wir in der Schweiz zu durchschnittlich seien. Dass auch die wirklich herausragenden Schüler zu kurz kämen und wir deshalb auch kaum herausragende Köpfe hätten. Stimmt das?

In der Verteilung der Intelligenz unterscheidet sich die Schweiz nicht von anderen Ländern, im Lebensstandard schon. In der Schweiz bekommt man sehr vieles gratis, wofür man in anderen Ländern kämpfen muss. Bei einer Gymnasialquote von 20 Prozent kann man wirklich nicht sagen, dass begabte Schüler zu kurz kommen. Aber – leicht übertrieben – gilt, dass in einem Alter, in dem sich begabte junge Menschen in anderen Ländern um eine Doktorandenstelle bemühen, der Schweizer erst einmal auf Weltreise geht. In einer globalisierten Welt gerät man damit automatisch ins Hintertreffen.

Sie haben in der NZZ geschrieben, aus der Lehr- und Lernforschung wüssten Sie, wie ein Unterricht aussehen sollte, der allen Schülern zu einer besseren Allgemeinbildung verhelfe und einige von ihnen auf kreative Höhenflüge vorbereiten könne. Wie also sollte dieser Unterricht aussehen?

In der Lernforschung wurde der Begriff «kognitiv aktivierend» geprägt: Lernende müssen verstehen, welche Fragen sie mit dem zu erwerbenden Wissen beantworten können und welche Probleme sie damit lösen können. Sie müssen durch gute Aufträge und Aufgaben dazu gebracht werden, sich intensiv mit dem Stoff auseinanderzusetzen, statt oberflächliches Wissen zu erwerben. Dazu hat die Lernforschung Techniken entwickelt, die in die Lehrerbildung gehören.

Was für Techniken?

Beispielsweise sollte die Lehrperson immer mit einer Frage beginnen, um das Interesse der Schüler zu wecken. Das funktioniert klar besser, als wenn sie anfängt vorzutragen. Ein weiteres wichtiges Element sind Selbsterklärungen. Schüler sollten sich immer wieder verdeutlichen, was sie gerade erfahren haben. Wie würde einer beispielsweise seiner Grossmutter davon berichten? Das zeigt, ob und wie viel der Schüler begriffen hat und gibt die Möglichkeit zur Vertiefung.

Zum Schluss: Sind wir auf dem richtigen Weg?

Ja und nein. Manche Schulen gehen Volldampf in die falsche Richtung, indem sie separate Methodentrainings unter dem Stichwort «Lernen lernen» auf dem Programm haben. Aber viele Schulen wissen, worauf es ankommt: ein an Inhalten ausgerichteter Unterricht, der so gestaltet ist, dass alle Schüler – natürlich in unterschiedlichem Ausmass – Lernfortschritt erleben.

Elsbeth Stern, 54, ist Professorin für Lern- und Lehrforschung am Institut für Verhaltenswissenschaften an der ETH Zürich.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12

Nächster Artikel