Letztes Asylheim vor der Grenze

In Rodersdorf leben Asylsuchende abgelegen in einem Bauernhof am Waldrand. Nicht alle finden sich gleich gut zurecht.

Der Chrüttlihof liegt am äussersten Zipfel von Rodersdorf am Waldrand unweit der Grenze zu Frankreich. (Bild: Michael Würtenberg)

In Rodersdorf leben Asylsuchende abgelegen in einem Bauernhof am Waldrand. Nicht alle finden sich gleich gut zurecht.

Es ist ein nebelgrauer Montagmorgen, vor den Fenstern bläst eine eisige Bise den Schnee von den Bäumen. Im Chrüttlihof in Rodersdorf sitzen fünf Asylsuchende mit Gemeinderätin Irene Meier in der unwirtlich kalten Küche am Tisch.

Insgesamt sechs Männer teilen sich im ersten Stock des Bauernhauses drei Schlafzimmer, eine kleine Küche und einen Aufenthaltsraum. Im Erdgeschoss wohnt der Bauer, er vermietet die Wohnung an die Gemeinde. Um die Betreuung der Asylsuchenden kümmert sich die Gemeinderätin persönlich, jeden Montagmorgen trifft sie die Männer für ein Gespräch.

Babak C. aus Iran schaut mit unbewegtem Blick durch das Fenster ins Nichts, Werede N. will wissen, wann ihm endlich sein bescheidener Lohn für einen zuletzt geleisteten Arbeitseinsatz ausbezahlt wird, und Goitom G. will nicht wahrhaben, dass er die Schweiz bis spätestens Ende Juli verlassen soll.

Seit gut zwei Jahren betreibt die kleine Gemeinde Rodersdorf im Chrüttlihof eine Asylunterkunft. Im ständigen Wechsel wohnen hier bis zu sechs Asylsuchende, seit einigen Monaten ist die Unterkunft ausgelastet. Einige bleiben während Monaten, viele nur wenige Wochen. Der Blick vom Gehöft geht über Felder und eine Handvoll Häuser.

Rodersdorf – ein idyllisches Dorf mit 1300 Einwohnern, einer Kirche, einem Dorfladen, einer Post. Der letzte Ort vor der Grenze zu Frankreich. Ein Weg führt von der Tramstation hinunter und wieder hinauf bis zum Chrüttlihof, eine halbe Stunde Fussmarsch. Hinter dem Wohnhaus weiden die Schafe, danach kommt nur noch Wald, irgendwo zwischen Eichen und Birken markieren einige moosbewachsene Steine die Landesgrenze.

Serge F., ein feingliedriger junger Mann aus Côte d’Ivoire, ist misstrauisch, will zuerst nicht mit den Journalisten sprechen. Dann entscheidet er sich anders. Er verbringt den zweiten Winter auf dem Chrüttlihof. Seit einer Woche arbeitet er in einem Beschäftigungsprogramm in einem Brockenhaus. Hätte er die Wahl, dann würde er in einem Unterrichtsraum sitzen und in einem weiteren Kurs seine Deutschkenntnisse vertiefen. Stattdessen liest er deutsche Kinderbücher und sucht das Gespräch mit den Einheimischen.

Klavierunterricht in der Fremde

Für ihn wurde die ländliche Lage der Asylunterkunft auch zu einer Chance, wie er sagt. Vor Monaten erzählte er der Gemeinderätin Irene Meier von seinem Wunsch, das Klavierspielen zu erlernen. Die Gemeinderätin fragte eine benachbarte Familie, ob Serge einmal auf ihrem Flügel spielen dürfe. In der Zwischenzeit kennt Serge einige Personen und fast ebenso viele Klaviere im kleinen Dorf. Einmal in der Woche erteilt ihm ein pensionierter Musiklehrer Klavierunterricht, zu Weihnachten schenkten ihm seine Dorfbekanntschaften ein Keyboard.

In Côte d’Ivoire hatte Serge F. Rechtswissenschaften studiert. Sein Wunsch in der Schweiz: am Leben teilnehmen und der Gesellschaft etwas zurück geben. «Ich glaube an Gott, und ich will, dass du das schreibst. Ohne Glauben würde ich hier nicht überleben.» Noch sei er nicht angekommen. Aber er habe hier Frieden, ein Haus, medizinische Behandlung und Essen. Das sei viel. Mehr als er sich in seiner Heimat erhoffen konnte.

Für die Gemeinde Rodersdorf war die leerstehende Wohnung im Chrüttlihof ein Glücksfall, sagt Irene Meier. Die bisherige Asylunterkunft im Dorfkern war nicht mehr bewohnbar, die Gemeinde machte sich auf die Suche nach einer neuen Unterkunft. Die zentraler gelegene Zivilschutzanlage war keine Alternative: «Die wären da ja im Bunker.» SP-Gemeinderätin Meier schüttelt den Kopf. Die Gemeinde will sich um ihre Asylsuchenden kümmern.

Gemeinsam mit weiteren Personen hat Meier einen Fonds eingerichtet, aus dem die Gemeinde für die Asylsuchenden kleine Geburtstagsfeiern, ein Weihnachtsessen oder das Schulgeld für die Deutschkurse bezahlt. Im Sommer haben einige Asylsuchende mitgeholfen, im nahen Wald Bäume zu pflanzen. «Es entstehen auch Freundschaften mit Personen aus der Gemeinde, Einladungen zum Essen», sagt Meier und erzählt davon, wie eine Frau alle Asylsuchenden zum Essen einlud und von dem grossen Blumenstrauss, den die Männer mitbrachten. Aber es gäbe auch andere Stimmen: «Stammtischgerede, wie man es so kennt. Die sollen zurück, von wo sie herkommen und so.»

Auch ein paar rechtsextreme Jugendliche, wie es sie in kleinen Landgemeinden nun mal gibt, machen auf sich aufmerksam. Einmal seien die Fahrräder, welche die Gemeinde den Asylsuchenden zur Verfügung stellt, an der Tramhaltestellte demoliert worden.

Immer wieder Misstrauen

In der Asylunterkunft sei es bisher friedlich geblieben, auch ohne Sicherheitspersonal, sagte Irene Meier. Dennoch – Geschichten wie jene von Serge, der Klavierspielen lernte, bilden auch in Rodersdorf die Ausnahme. Die Lage des Chrüttlihofs helfe natürlich, die Augen zu verschliessen, sagt der Gemeindepräsident Max Eichenberger. «Aber es hängt auch sehr ab von den Leuten, die gerade da sind. Man darf das nicht romantisieren. Die sind manchmal auch misstrauisch und wollen von uns in Rodersdorf gar nichts.»

Der Iraner Babak C. ist zusammen mit Serge im Chrüttlihof angekommen. Rund vierzehn Monate lebe er bereits hier, erzählt er im holzgetäferten Aufenthaltsraum des Bauernhofs. Mit seinen Gedanken scheint er weit weg bei seinen Landsleuten in Iran und im Flüchtlingscamp Ashraf auf irakischem Boden. Dieser iranischen Flüchtlingsgemeinde im Irak widmet er einen grossen Teil seiner Zeit. Fast jede Woche fährt er nach Genf, wo er sich mit Landsleuten trifft. Mit Sit-Ins und Kundgebungen kämpfen sie für den Schutz dieser iranischen Diaspora.

Dreizehn Monate im Gefängnis

Im vergangenen Frühling rückte die irakische Armee in das Flüchtlingsdorf ein und tötete mehrere Dutzend der rund 3400 iranischen Flüchtlinge. Er habe viele Freunde in dem Camp, erklärt Babak in gebrochenem Englisch. Der Kontakt sei aber schon seit Langem abgebrochen, das Camp werde isoliert.

Seine Sprachkenntnisse können mit seiner Verzweiflung über die Situation in Ashraf nicht Schritt halten. Die letzten dreizehn Monate in Iran verbrachte Babak in einem Gefängnis. Für ihn ist klar: Sobald das iranische Regime gebrochen sei, wolle er mit dem ersten Flug zurück in sein Land. Drei bis fünf Jahre gibt er dem gegenwärtigen Machtapparat, dann werde dieser fallen. «Wenn ich einen Pass hätte, würde ich nach Syrien gehen und dort der Revolution helfen mit allen Mitteln, die nötig sind.»

In der Küche verabschiedet sich Gemeinderätin Meier von den Asylsuchenden, ihr wöchentlicher Besuch ist vorbei. Die Türe öffnet sich in den wolkenverhangenen Vormittag. Die Treppe hinunter, vorbei an den Kaninchen in den hölzernen Käfigen steigt sie ins Auto und macht sich auf den Weg ins Dorf.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.02.12

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