Die Libyer machen am kommenden Wochenende ihre ersten Erfahrungen mit Wahlen seit Jahren. Es gibt unzählige Parteien und Kandidaten, aber kaum Programme und keine Diskussion über Sachthemen.
Auf dem Märtyrer-Platz im Zentrum von Tripolis freuen sich die Passanten über eine kleine Militärparade von Marine-Soldaten, die in Italien trainiert wurden. «Stück für Stück geht es mit dem Aufbau der Sicherheitskräfte voran», freut sich ein Zuschauer. Nach den Wahlen vom Samstag soll es noch schneller gehen. «Inshallah kheir» – wenn Gott will, geht es gut – lautet der Standardkommentar zu diesem historischen Ereignis.
Keine Spur von Wahlkampf-Fieber
Nach den Wahlen werde alles besser, würden endlich Entscheidungen getroffen, sagt ein junger Familienvater, der darauf wartet, wieder am Flughafen arbeiten zu können, wo er vor der Revolution zehn Jahre tätig war. «Meine Papiere sind komplett und liegen dort, aber niemand ist zuständig», klagt er. Schon allein die Tatsache, dass Wahlen stattfinden, die ersten nach über 40 Jahren Diktatur, wird als Erfolg begrüsst. Die Resultate sind ebenso wenig ein Thema wie Parteiprogramme.
Der Politologe Said Laswad nennt zwei Gründe für diesen Umstand. Einmal sei die Wahl und das ganze Drum und Dran eine neue Erfahrung, zudem sei die Unzufriedenheit mit der bestehenden Führung, dem Nationalen Übergangsrat (NTC) und der Regierung, so gross, dass die Leute glauben, es könne nur besser werden. «Das mit der Freiheit ist doch nur Geschwätz. Jetzt haben wir Whisky, Drogen und Frauen und so viele Waffen wie Brasilien oder Somalia“, ärgert sich Scheich Mohammed, ein Verkäufer.
Interesse und Zersplitterung
Gewählt wird am Samstag der 200-köpfige Nationalkongress, der eine Verfassung ausarbeiten und eine neue Übergangsregierung einsetzen wird. 3700 Kandidaten und Kandidatinnen und über 130 Parteien und politische Gruppierungen treten an. «Gaddhafi hat nie erlaubt, dass sich jemand profiliert, jetzt wird diese Möglichkeit der Selbstdarstellung genutzt», erklärt Laswad das grosse Interesse und die Zersplitterung. Wahlfieber kam keines auf. Der Wahlkampf beschränkte sich auf Plakate, die Medien, wenige Haus-zu-Haus-Besuche und ein paar öffentliche Wahlveranstaltungen, die oft schlecht besucht waren.
Die meisten Parteien haben keine wirklichen Programme, sondern nur ein paar Grundsätze. Diskussionen über Sachthemen gab es nicht. Eine Wahlkampagne ohne Themen sei wie eine Hochzeit ohne Braut, schrieb ein lokaler Kolumnist. Echte Chancengleichheit würde durch das viele Geld einzelner Grupperungen und die unterschiedliche Behandlung in den Medien verhindert, stellt die liberale Geschäftsfrau Ibtisam Ben Amer, Kandidatin der Libyschen Nationalpartei fest.
Trotz der Überfälle auf zwei Wahlbüros in Tobruk und Benghazi habe die Sicherheit den Wahlkampf nicht behindert, versichert Hammouda Siala, der Sprecher der Allianz der Nationalen Kräfte von ex-Premier Mahmoud Jibril. Kaum eine Handvoll Parteien tritt im ganzen Land an, die meisten sind nur in einzelnen Regionen präsent. Die präsenteste der «Landesparteien» ist die Partei der Gerechtigkeit und des Aufbaus. Sie ist eine Gründung der Muslimbrüder, die unter Gaddhafi verboten und verfolgt waren. «In Libyen gibt es keine Polarisierung zwischen Islamisten und Nicht-Islamisten wie in Tunesien oder Ägypten», erklärt al-Amin Belhajj im Gespräch. «Libyen ist ein islamisches Land, hier sagen auch sogenannt Säkulare, sie glauben an die Sharia», sagt er. Er ist Kampagnen-Manager und Mitglied der Partei der Gerechtigkeit und des Aufbaus. Diese definiert sich als zivil, national und demokratisch und auf der Sharia beruhend.
Resultate regional geprägt
Der schärfste Konkurrent unter den islamischen Parteien, die sehr zersplittert sind, ist die konservative al-Watan von Abdel Hakim Belhajj, dem ehemaligen Militärchef von Tripolis, die im Geld zu schwimmen scheint. Viele Libyer, vor allem in Tripolis, sind beiden diesen islamistischen Parteien gegenüber skeptisch. «Die Muslimbrüder haben eine ausländische Agenda», sagt ein junger Ingenieur. Viele ihrer Führungsleute haben unter Gaddhafi lange Jahre im Exil gelebt. Beide hätten «ausländisches Blut», gemeint ist ausländisches Geld, ist ein oft gehörter Vorwurf. Genannt werden Katar und die Arabischen Emirate.
Meinungsumfragen gibt es keine und das komplizierte Wahlsystem macht Prognosen unmöglich. Die Resultate werden sehr regional geprägt sein. Jibril wird in Tripolis, die Muslimbrüder in Benghazi und die Heimatunion von Abdul Rahman Sewehli in Misrata gut abschneiden. Den extremen Rechten werden keine grossen Chancen eingeräumt. Die Mehrheit im neuen Nationalkongress werden gemässigt Konservative sein. Die Analyse der Ergebnisse werde bestimmt nicht einfach, ist der Politologe Laswad überzeugt.