Nach 25 Jahren Schengen-Abkommen werden in der EU wieder Grenzen kontrolliert und befestigt. Damit verlieren sie ihre verbindende Funktion und dienen nur noch der Abschottung.
Soll uns angesichts des anhaltenden Flüchtlingsstroms neuerdings die Einsicht dämmern, dass Grenzen doch gut und vor allem nötig seien? Auffallend viele Politiker und Publizisten halten die Stunde für gekommen, im Namen des «einfachen» und – natürlich – «rechtschaffenen» Volkes für richtig zu erklären, dass nationale Zäune nun überall wieder hochgezogen werden, mit teuren Einrichtungen, aber auch mit noch teurerem Wachpersonal.
Ungarns rechtsradikale Regierung wird wegen des Zauns gegen Serbien vom Chefideologen der «Basler Zeitung» mit viel Verständnis bedient. Orban soll offenbar ein Vorbild sein, dem die Österreicher und Bayern und schliesslich ganz Restdeutschland folgen sollen.
Tatsächlich redet die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) bereits von einem Zaun gegen Slowenien, und die Slowenen replizieren, ihrerseits einen Zaun gegen Kroatien errichten zu wollen. Und da geht es, wohlgemerkt, um EU-Binnengrenzen und nicht wie im Falle Ungarns um eine – vorläufige – Aussengrenze. Bekanntlich hatte auch schon Frankreich im Juni 2015 zwischen Ventimiglia und Menton die Grenzen dicht gemacht.
Die überwundenen Grenzen sind nie beseitigt worden
Mikl-Leitner spricht unter Berufung auf «nationales Recht» typischerweise weder von Zaun noch von Mauer, sondern von «baulichen Massnahmen». Doch sie schiebt den Fortifikationssatz nach: «Wer die Festung Europa nicht gutheisst, hat die Geschichte nicht verstanden.» Als ob, wie 1529 und 1683, die Türken vor Wien stünden!
Es wäre ein Wunder, wenn der helvetische Verteidigungsminister Maurer unter solchen Umständen still bliebe. Selbstverständlich fordert auch er die Wiedereinführung von systematischen Grenzkontrollen. Dies natürlich, weil «Europa» seinen Pflichten nicht nachkomme, man sich auf Europa, von dem man sonst gar nichts will, nicht mehr verlassen könne, darum selber «für Ordnung» sorgen müsse. Gegen den Willen des Grenzwachtkorps würde er doch so gerne «seine» Armee einsetzen.
Soll jetzt, nachdem in Europa während 60 Jahren auf die Überwindung von Grenzen hingearbeitet worden war, die Errungenschaft der freien Bewegung wieder rückgängig gemacht werden? Noch haben wir die Bilder im Kopf, da mit blauen Luftballons und Konfettikanonen zum Jahresende 2007 der Schengenraum erweitert und jubelnd die Schlagbäume an der Ostgrenze beseitigt wurden.
Die überwundenen Grenzen sind aber nie beseitigt worden. Man hat sie einfach stillgelegt. In Momenten, da «nationale Sicherheit» dies zu verlangen schien, sind sie immer wieder mal erneut kontrolliert beziehungsweise bewacht worden. So nahm beispielsweise Dänemark im Juli 2011 an seinen Grenzen zu Deutschland und Schweden die Zollhäuschen wieder in Betrieb, zusätzliche Grenzbeamte mussten vorübergehend mit Stichproben nach Drogen und Waffen suchen.
«Schengen» wird von Nationalisten wie von Menschenrechtsorganisationen kritisiert
Dänemarks sozialdemokratische Regierung hat dem dann ein Ende gesetzt. Doch seit Juni 2015 sind wieder die Liberalen an der Macht und wollen – ausdrücklich im Rahmen von Schengen – gegen «Kriminalität und Menschenschmuggel» erneut vermehrt Stichproben durchführen. Dies unter anderem auch darum, weil sie unter Druck der rechtspopulistischen Volkspartei stehen, die lückenlose Kontrollen fordert.
Zugegeben, die theoretisch noch immer geltenden Abkommen haben ihre Schwächen.
Das gilt weniger für das 1985 im luxemburgischen Schengen zunächst von einer kleinen Kernmitgliedschaft beschlossene Abkommen, das mit zurückverlegten Grenzraumkontrollen und vor allem mit einem gemeinsamen Informationssystem (SIS) die wegfallenden Direktkontrollen an der Grenze mehr als kompensiert. Schengen wird aber von zwei Seiten gegenläufig kritisiert: von Nationalisten wegen angeblichen Wegfalls von Grenzkontrollen, und von Menschenrechtsorganisationen wegen der zu hermetischen Abwehr an den Aussengrenzen. Die Schweiz, die «Schengen» 2005 per Volksabstimmung übernahm, war da übrigens interessierte Gesuchstellerin und nicht etwa dazu gedrängter Staat.
Verbindliche Verteilschlüssel sind dringend nötig
Das Dublin-Übereinkommen zum Asylverfahren in den Ersteinreisestaaten wurde 1990 von den damals zwölf EG-Mitgliedstaaten unterzeichnet und besteht mittlerweile in seiner dritten Variante. Auch da ist die Schweiz Mitglied, 2005 ebenfalls per Volksabstimmung gutgeheissen.
Die Absicht, das Asylverfahren zu harmonisieren und Mehrfachgesuche zu vermeiden, ist mehr als gerechtfertigt. Erstaunlich ist dagegen, dass nicht von Anfang an den zu erwartenden Unterschieden in der Belastung der Ankunftsländer und den Erstaufnahmen Rechnung getragen wurde. Die EU kann Italien und Griechenland nicht alleine lassen, so wenig wie jetzt Ungarn, Kroatien und so weiter.
Indem Deutschland seine Grenzen öffnete, bekräftigte es sie zugleich.
Verbindliche Verteilschlüssel sollten dringend eingeführt werden. Merkels Deutschland hat mit seiner «Dublin» missachtenden Aufnahmegrosszügigkeit eine gute Ausgangslage geschaffen, um bei anderen EU-Mitgliedern mehr Solidarität einzufordern.
Indem Deutschland seine Grenzen öffnete, bekräftigte es sie indirekt zugleich. Die Regierung dieses ebenfalls über Grenzen definierten Nationalstaats legte fest, was sie angesichts der Notlage der syrischen Flüchtlinge innerhalb ihres Zuständigkeitsraumes für richtig hielt.
Das war nicht verantwortungslos, wie in den BaZ-Spalten verkündet wird, sondern eine zu achtende Art, Verantwortung zu übernehmen. Gemäss Chefredaktor Markus Somm gibt es eigentlich nur eine Art, verantwortlich zu sein, nämlich die egoistisch-nationalistische Haltung. Ihm zufolge gibt es grundsätzlich keine koordinierte und kollektive Verantwortung. Als Historiker müsste er eigentlich wissen, dass gerade die Schweiz mit ihren 26 Kantonen das Gegenteil beweist.
Grenzen sind ein verbindendes Element
Grenzen lassen sich nicht einseitig zur Bekräftigung von Abschottungsideologien einsetzen. Grenzen können vieles sein. Gut und schlecht. Sie sind, so paradox es klingen mag, in der Regel nicht linearer Natur, keine Limes, sondern schaffen – was man in der Regio Basiliensis besonders gut weiss – Räume, die wegen dazwischen liegender Grenzen besonders eng verbunden sind. Auch die EU trägt dem Rechnung, indem sie zum Beispiel zwischen der ausserhalb der EU liegenden Ukraine und dem innerhalb liegenden Polen einen besonderen visumsfreien Raum von 50 Kilometern Breite einrichtete.
Der Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann hat 2012 ein Büchlein zum «Lob der Grenze» publiziert. Da könnten die Alarmglocken läuten mit der Befürchtung, dass diese Schrift nun der aufkommenden Renationalisierung das Wort reden möchte. Das ist aber nicht der Fall. Zwar verweist Liessmann wie erwartet auf die Schutzfunktion von Grenzen, er thematisiert aber zahlreiche Grenzen nichtterritorialer Art, Grenzen bei den Mengen von Chemie in den Lebensmitteln, Metall in den Meeren, Lärm in der Umgebung von Menschen und so weiter.
Ein Lob auf Grenzen hat der Bündner Romanist Iso Camartin schon vor Jahren, nämlich 1987 am 50. Internationalen PEN-Kongress in Lugano, angestimmt, als er die Vorzüge des intramuralen Daseins hervorhob. Er tat dies aber nicht ohne ein gleichzeitiges waches Interesse für Aussenwelten zu empfehlen, Durchlässigkeit zu preisen und alle Sorten von Boten, Abgesandten, Zwischenträgern, Schmugglern und Spionen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (NZZ vom 9./10. Mai 1987, S. 65). Heute würde er auch die Flüchtlinge in seine Aufzählung aufnehmen.
Höhere Motive entgehen den niederen Geistern
Wann stossen wir mit der Aufnahme von Flüchtlingen an «unsere Grenzen»? Soll man vorweg «Obergrenzen» definieren, die möglicherweise geradezu eine Beschleunigung der Inanspruchnahme auslösen?
Die allwissende BaZ sagt es natürlich nicht, sie predigt nur, dass wir Nein sagen sollten, möglichst von Anfang an. Und sie macht weniger die Flüchtlinge dafür verantwortlich, dass sie an den Grenzen stehen, sondern typischerweise die «verantwortungslosen Politiker in den Teppichetagen», ob in Bern oder Brüssel. Um Ressentiments gegen oben anzuheizen, ist jedes Thema recht. Die allgemeine Polemik gegen oben richtet sich aber nicht gegen Ueli Maurer, sondern artikelbreit gegen Simonetta Sommaruga und Eveline Widmer-Schlumpf – im Fall von deren Demission weit jenseits der in unserem Land eigentlich üblichen Anstandsgrenze.
Doch die BaZ ist nicht alleine. Selbst die scheinbar noble NZZ rückt einen ganzseitigen Kommentar des früheren «Bild»-Chefredaktors H. H. Tiedje ein, dem zur Frage, warum die Kanzlerin die Grenzen geöffnet hat, vor allem die Verdächtigung einfällt, dass sich «Mutter Angela» für die Nachfolge von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon qualifizieren und/oder selbstsüchtig wie die früheren Kanzler mit einer historischen Tat in die Geschichte einschreiben wolle. Dass es höhere Motive geben könnte, kommt den niederen Geistern nicht in den Sinn.