Der neuste Vorschlag zur Steuerung der Zuwanderung sieht einen «Inländervorrang light» vor. Doch das ist ein fauler Zauber. Um das Dilemma zu lösen, das wir uns mit der Zustimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative eingebrockt haben, müssen wir klare Verhältnisse schaffen.
Inländervorrang – so lautet das Zauberwort! Viele erhoffen sich, dass es die Schweiz aus dem tiefen Dilemma befreien wird, in das die SVP das Land mit der Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) gebracht hat. Inländervorrang? Man kan sich ihn in sehr unterschiedlichen Varianten vorstellen: von grob und massiv über robust bis zu sanft, mild und «light» und – bis er keiner mehr ist.
Es ist an sich schon sehr erstaunlich, dass man den Ausweg aus dem Dilemma überhaupt im Inländervorrang sucht, also in etwas, das dem Prinzip der Personenfreizügigkeit fundamental widerspricht. Um das begreiflich zu machen: Das entspräche der Vorschrift, in der Stadt Basel künftig Baselbieter nur noch anzustellen, wenn keine Baselstädter mit gleichen Qualifikationen zur Verfügung stehen. Wobei der Bürgerort bestimmend wäre, ob jemand als Städter oder Landschäftler gilt.
Die helvetischen Übungen auf der Suche nach einem Ausweg orientieren sich kaum an den beiden Polen, die das Dilemma überhaupt erst ausmachen: weder an der angenommenen und darum jetzt Gültigkeit beanspruchenden Masseneinwanderungs-Initiative, die jährliche Höchstzahlen und Kontingente auch für die Zuwanderung aus der EU verlangt; noch an der vom Volk im Mai 2000 angenommenen Bilateralen I und der damit noch immer geltenden Personenfreizügigkeit.
Böses Erwachen am 10. Februar 2014
Das Dilemma entstand, weil die Initianten wahrheitswidrig suggeriert hatten, dass die MEI mit den Bilateralen vereinbar sei, das heisst, die Vertragspartner (die EU) am Freizügigkeitsprinzip schon nicht festhalten würden. Eine knappe Mehrheit liess sich von dieser Unwahrheit täuschen und stimmte dem Vorgegaukelten zu. Der Bundesrat hatte in seiner Botschaft zwar ausdrücklich auf die Unvereinbarkeit hingewiesen. Aber viele wollten dies nicht zur Kenntnis nehmen.
Ohne Fremd- und Selbsttäuschung wäre die knappe Mehrheit zur MEI nicht zustande gekommen. Nicht gerade ein Reifezeugnis für den Souverän.
Gleich nach dem ominösen 9. Februar 2014 trat Ernüchterung ein und es meldeten sich Ja-Sager mit Erklärungen, dass sie mit ihrer Stimme nicht zu den Bilateralen hätten Nein sagen wollen. Dies in einem Ausmass, das zeigte, dass ohne diese Fremd- und Selbsttäuschung die äusserst knappe Mehrheit zur MEI nicht zustande gekommen wäre. Nicht gerade ein Reifezeugnis für den stets hochgelobten Souverän.
Umfragen vom Februar 2016 ergaben, was man schon zuvor gehört hatte: Vor die Alternative «MEI oder Bilaterale» gestellt, würden zwei Drittel (65 Prozent) für die Bilateralen stimmen. Die Bilateralen «retten» ist inzwischen zum prioritären Ziel der Aussenpolitik und zur vorherrschenden Volksmeinung geworden.
Nun fragt sich aber immer noch, ob dies die zwingende Alternative sei, ob man nicht doch «den Fünfer und das Weggli» haben oder, um ein anderes gängiges Bild zu verwenden, ob man nicht den Bären waschen könnte, ohne den Pelz nass zu machen. Auch wenn das Hauptgeschäft in der Politik darin besteht, Kompromisse zu schliessen, ist in diesem Fall die Alternative härter, als trügerische Hoffnungen es gerne hätten.
Grenznahe Ausländer einschweizern
Der Ende August von der Mehrheit der Staatsbürgerlichen Kommission des Nationalrats vorgelegte Vorschlag ist sehr darauf bedacht, den Bären nicht nass zu machen. Im Kern sieht er eine Stellenmeldepflicht vor, wonach Jobs unter bestimmten Bedingungen zuerst den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) gemeldet werden müssten. Weil dieser Vorschlag sozusagen keine Massnahme ist, also auch keine einseitige, hat er den Vorteil, dass man ihn mit dem EU-Partner nicht gross verhandeln muss. Die EU als der eine Pol könnte zufrieden sein, die SVP als der andere Pol ist dagegen – nachvollziehbar – sehr unzufrieden.
Der im Rahmen der Bilateralen einzig statthafte Inländervorrang wäre eine völlig freiwillige Berücksichtigung durch die Arbeitgeber, die in ihrer Anstellungspolitik ortsansässige und regionale Arbeitnehmer bevorzugen würden, wie das zum Beispiel die Basler Pharma bei gegebener Eignung jetzt schon tut. Ausschöpfen des inländischen Arbeitspotenzials wird das genannt, wobei erfreulicherweise – und vielleicht sogar mit dem Segen der SVP – die bereits hier wohnhaften Ausländer als «inländisch» eingestuft werden. Jetzt müssten, speziell aus Basler Sicht, weniger hingegen aus Tessiner Sicht, nur noch die grenznahen Ausländer fremdenpolizeilich eingeschweizert werden.
Ein temporärer Inländervorrang hätte wie jede Migrationssteuerung einen enormen bürokratischen Aufwand mit geringer Wirkung zur Folge.
Ein etwas griffigerer Inländervorrang bestünde gemäss dem Modell des ehemaligen Staatssekretärs und heutigen ETH-Professors Michael Ambühl darin, bestimmten Regionen bzw. Kantonen bei überdurchschnittlicher Nettoeinwanderung mit einer, wie man sagt, «bottom up»-Schutzklausel das Recht auf Einführung eines temporäreren Inländervorrangs einzuräumen; auf nationaler Ebene wäre für bestimmte Branchen das Gleiche vorgesehen. Dies hätte allerdings, wie jede Migrationssteuerung, einen enormen bürokratischen Aufwand mit geringer Wirkung zur Folge.
Damit würde aber nicht ein schweizerisches Privileg angestrebt, sondern eine Lösung, die auch von EU-Mitgliedern beansprucht werden könnte. Auch in der EU könnten sich die Stimmen mehren, die eine uneingeschränkte Personenfreizügigkeit nicht mehr als integrales Element des freien Binnenmarkts verstehen. Das anfänglich auf die Tessiner Problematik ausgerichtete Modell ist allerdings von Italien bereits dezidiert abgelehnt worden. Das Bundesgericht hat ebenfalls erklärt, eine solche Regelung nicht mittragen zu können.
Die Schweiz liegt im Clinch zwischen zwei harten Polen. Auf der einen Seite die EU, die ihr Grundprinzip nicht fallweise aufgeben kann und will – auf der anderen Seite diejenigen, die für die Schweiz die MEI ausgeheckt haben. Obwohl die Initianten für sich in Anspruch nehmen, selber entscheiden zu dürfen, was und wie viel vom ursprünglichen Forderungskatalog letztlich umgesetzt werden soll, ist es nach geltender Ordnung zunächst Aufgabe des Parlaments, ein entsprechendes Gesetz zu erarbeiten.
Dann aber haben – wiederum nach geltender Ordnung – Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit, mit einem Referendum dazu Stellung zu nehmen. Gelingt es, daraus ein Plebiszit über die Bilateralen zu machen, würde man derzeit mit einem Ja zur vorliegenden Lösung rechnen – die vom Ständerat wahrscheinlich noch etwas verschärft wird.
«Volksverrat» und Drohkulisse
Das Beste an der gegenwärtigen Situation ist, dass die bürgerliche Mitte endlich ihre Angststarre vor der SVP abgelegt hat und sich von dieser nicht mehr alles diktieren lässt. Entsprechend belämmert reagierten die offiziellen Spitzenvertreter der Einschüchterungspartei. Der vermeintliche Volkstribun von Herrliberg, von den Medien eilfertig nach seiner Einschätzung befragt, regierte bereits mit der Androhung einer weiteren Volksinitiative und unterstellte der FDP Volksverrat, indem er erklärte, ihr sei die EU wichtiger als das Volk. Als ob der Schutz der Bilateralen nicht den Volksinteressen dienen würde.
Der Chefdenker des Basler Blocher-Blatts empörte sich auf Vorrat über die Geringschätzung des Volksurteils vom 9. Februar 2014 und sprach von Staatsstreich. Er erklärte, man habe in der Umsetzung die Verfassungsbestimmungen bisher immer ernster genommen als in diesem Fall. Wahrscheinlich hat er sogar recht.
Der von der nationalrätlichen Kommission auf den Tisch des Hauses gelegte Vorschlag ist Trickserei. Staatsbürgerliche Sauberkeit sähe anders aus.
Die Anhänger des Inländervorrangs «light» haben der guten Sache einen Bärendienst erwiesen. Einen Bärendienst? Da geht es um das Bild des hilfreich sein wollenden Bären, der mit seiner Tatze jemanden vor einem Insektenstich schützen will und damit wesentlich grösseren Schaden anrichtet.
Notfalls ein Plebiszit zur Freizügigkeit
Der von der nationalrätlichen Kommission auf den Tisch des Hauses gelegte Vorschlag ist Trickserei. Staatsbürgerliche Sauberkeit sähe anders aus. Andere Lösungen wären vorzuziehen. Weniger die ebenfalls vorliegende RASA-Initiative, die den 9. Februar rückgängig machen will, denn sie wird nie das Ständemehr schaffen; vielmehr eine vom Parlament im Sinne eines Gegenvorschlags zur RASA zu erarbeitende Vorlage, die den Vorrang der Bilateralen bekräftigt.
Oder – warum auch nicht – die schon jetzt sozusagen als Mutter aller direktdemokratischen Schlachten angedrohte SVP-Initiative zur Abschaffung der Personenfreizügigkeit. Sollen sie es doch machen. Das Blöde ist bloss, dass bei den spitzen Mehrheitsverhältnissen nicht absehbar ist, welches Lager am Tag X, das heisst im Falle einer weiteren SVP-Initiative in etwa zwei bis drei Jahren, gerade die Nase vorn hat.
Das sind Lösungen, die den Pelz zwar nass machen, aber auch klare Verhältnisse schaffen und sich nicht unnötig dem Vorwurf aussetzen, den hehren Volkswillen zu missachten.