Michail Gorbatschow – die tragische Figur des Mauerfalls

Michail Gorbatschow ist der in Deutschland wohl beliebteste Russe – ohne ihn wäre die deutsche Wiedervereinigung unmöglich gewesen. In seinem eigenen Land ist Gorbatschow jedoch verhasst. Er selbst fühlt sich vom Westen betrogen.

Michail Gorbatschow am Tag, als er seinen Rücktritt erklärte, dem 25. Dezember 1991. (Bild: Keystone)

Michail Gorbatschow ist der in Deutschland wohl beliebteste Russe – ohne ihn wäre die deutsche Wiedervereinigung unmöglich gewesen. In seinem eigenen Land ist Gorbatschow jedoch verhasst. Er selbst fühlt sich vom Westen betrogen.

Sie klatschten und lachten. Lachten über den Präsidenten der Sowjetunion, der versuchte souverän zu bleiben, aber er spürte die Aussichtslosigkeit seiner Lage. «Das ist ein Fehler», stammelte er. Doch die Abgeordneten des Obersten Sowjets kannten keine Gnade mehr mit dem Mann, ohne den sie dort kaum gesessen hätten.

Die Demontage des Michail Sergejewitsch Gorbatschow am 23. August 1991 besiegelte seine gesamte politische Karriere. Boris Jelzin, der russische Präsident, entschied den Machtkampf für sich, als er Gorbatschow während dessen Rede unterbrach, um vor laufender Kamera ein Dekret über das Verbot der Kommunistischen Partei Russlands zu unterschreiben.

In Russland ein Aussenseiter

Damit war Gorbatschow eine «lame duck», ja mehr noch – ein Herrscher ohne Reich. Am 25. Dezember 1991 schliesslich legte Gorbatschow sein Amt als Präsident der Sowjetunion nieder. Der Tag markiert das Ende von Gorbatschows politischer Karriere, auch wenn er dies selbst nie wahrhaben wollte. Gorbatschow ist ein tragischer Held.

Mit 83 Jahren wird der Mann mit dem markanten Feuermal auf dem Kopf zum 25. Jahrestag des Mauerfalls nach Berlin kommen. Noch einmal wird der gesundheitlich angeschlagene Politiker sich dort feiern lassen, wo man ihn bedingungslos verehrt. Denn zu Hause ist er gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion ein Aussenseiter. Fragt man die Russen, sagen sie, er habe das Land zerstört und seine Bewohner ins politische und wirtschaftliche Chaos gestürzt.

«Nicht den Kopf in den Sand stecken und den Hintern rausschauen lassen» – Putin zur Frage, wie er 1991 an Gorbatschows Stelle gehandelt hätte.

Nach seinem Sturz im Jahr 1991 gründete Gorbatschow eine Stiftung, schrieb Dutzende Bücher, reiste als hochbezahlter Redner um die Welt. 1996 trat er bei den Präsidentschaftswahlen an – und ging mit 0,51 Prozent der Stimmen unter. Auch seine wiederholten Versuche, eine russische sozialdemokratische Partei aufzubauen, scheiterten ein ums andere Mal.

Der Kreml erinnerte sich erst 2011 an den Friedensnobelpreisträger. Da verlieh ihm der damalige Präsident Dmitri Medwedew einen Orden. Wladimir Putin jedoch hat eine ganz andere Meinung von Gorbatschow. Vor zwei Jahren erklärte er in einer Fernsehfragestunde auf die Frage, wie er 1991 an Gorbatschows Stelle gehandelt hätte: «Nicht den Kopf in den Sand stecken und den Hintern rausschauen lassen, sondern die territoriale Einheit des Staates verteidigen.»

Überflüssig und betrogen

Gorbatschow, der 1985 zum stärksten Mann der Sowjetunion aufstieg und der mit den Begriffen «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Transparenz) in die Weltgeschichte einging, wehrt sich bis heute gegen die Anschuldigungen. Ähnlich wie Putin bedauert er in Interviews den Zerfall der Sowjetunion, gesteht aber lediglich taktische Fehler ein. Etwa jenen, dass er Jelzin nicht frühzeitig «fortgeschickt» habe. Jelzin war es, der hinter Gorbatschows Rücken die Auflösung der Sowjetunion und ihre Umwandlung in die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) betrieb und Gorbatschow damit überflüssig machte.

Auch gegenüber dem Westen, der ihn damals wie heute feierte, erhebt Gorbatschow seit Jahren schwere Vorwürfe: Er fühlt sich betrogen, weil die Nato sich entgegen der Zusagen der damaligen politischen Führer bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt hat – eine Diskussion, die angesichts der Ukraine-Krise wieder aktuell geworden ist. «Es gibt ehrliche Politik, und es gibt täuschende Politik», antwortete er jüngst auf die Frage, ob er betrogen worden sei.

Hätte Gorbatschow 1990 gewusst, dass später auch die Sowjetrepubliken im Baltikum Nato-Mitglieder werden, hätte es keinen Abzug der sowjetischen Truppen, vielleicht sogar keine deutsche Wiedervereinigung gegeben.

Grund für seinen Ärger ist eine mündliche Zusage des damaligen US-Aussenministers James Baker gegenüber Gorbatschow. Das Bündnis werde seinen Einflussbereich «nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen», falls die Sowjets der Nato-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands zustimmten, sagte Baker im Februar 1990 in Moskau. Die Aussage bezog sich damals nur auf Ostdeutschland.

Gorbatschow sagt jedoch: «Allein die Vorstellung, die Nato würde sich auf Länder dieses Bündnisses ausdehnen, klang damals vollkommen absurd.» Klar ist: Hätte er 1990 gewusst, dass einige Jahre später nicht nur Polen und Tschechien, sondern auch die Sowjetrepubliken im Baltikum Nato-Mitglieder werden, hätte es keinen Abzug der sowjetischen Truppen, vielleicht sogar keine deutsche Wiedervereinigung gegeben.

Zum Friedensengel erhoben

Die Position Gorbatschows war grundlegend für die Lösung der «deutschen Frage», wie sie damals hiess. Eine wichtige Rolle für die unblutige Lösung der Frage spielte das von tiefem Vertrauen geprägte Verhältnis zwischen Gorbatschow und Helmut Kohl sowie das der beiden Aussenminister Genscher und Schewardnadse. Die vier entstammten einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte. In ihren Treffen beriefen sie sich immer wieder auf die «besondere Verantwortung», die dem deutschen und dem russischen Volk aus der Kriegserfahrung erwachse.

Dabei war der Anfang denkbar schlecht: 1985 hatte Kohl den neuen Generalsekretär Gorbatschow mit Joseph Goebbels verglichen. Ohnehin wandte sich Gorbatschow in den ersten Jahren vor allem den Amerikanern zu. Erst 1988 kam Kohl nach Moskau und erkannte: «Das Eis ist gebrochen.»

Obwohl es in der Frage der Wiedervereinigung keine sichtbaren Fortschritte gab, erhoben die Deutschen Gorbatschow schon bald zu einer Art Friedensengel. Im Juni 1989 erlebte die «Gorbimanie» ihren Höhepunkt, als Gorbatschow mit seiner Frau Raissa einem Triumphzug gleich durch die BRD reiste und in Bonn und Stuttgart bejubelt wurde.

Die Krim-Annexion im März begrüsste Gorbatschow als «Wiedervereinigung» und sagte: «Das ist ein Moment des Glücks.»

Wie wichtig Gorbatschows Vertrauen zu Kohl war, bewiesen die brenzligen Tage nach dem Mauerfall. Der KGB und die DDR-Führung versuchten, Gorbatschow mit Schreckensszenarien zu einem Eingreifen zu bringen – in der georgischen Hauptstadt Tiflis waren die Sowjets im Frühjahr noch brutal gegen Demonstranten vorgegangen. Der Geheimdienst meldete Gorbatschow nun, dass Menschenmengen dabei seien, sowjetische Militäreinrichtungen in Berlin zu stürmen.

Kohl gab dem Russen per Telefon sein Wort, dass die Berichte nicht zuträfen. Und der hatte inzwischen so grosses Vertrauen zum Kanzler, dass er dessen Wort über die Berichte seiner Geheimdienstchefs stellte. Die sowjetischen Panzer blieben in den Kasernen, und die deutsche Wiedervereinigung nahm ihren Lauf.

In seinen jüngsten Interviews macht Gorbatschow einen verbitterten Eindruck. Er kritisiert die Ausdehnung der Nato und die Einmischung des Westens in den letzten Jahrzehnten in «für Russland wichtigen Regionen» wie Jugoslawien, Irak, Georgien und der Ukraine. Als Ergebnis habe sich eine «Eiterbeule» gebildet, die nun geplatzt sei – damit meint er die russische Ukraine-Politik. Die Krim-Annexion im März begrüsste Gorbatschow als «Wiedervereinigung» und sagte: «Das ist ein Moment des Glücks.»

Nächster Artikel