Von der EU über Indien bis Südkorea – weltweit werden Geldscheine und Münzen aus dem Verkehr gezogen. Doch mit der Abschaffung des Bargelds droht nicht nur die totale Überwachung der Konsumenten, sondern auch der Ausschluss von Armen.
Am 16. Juli 1661 gab die schwedische Stockholms Banco die ersten gedruckten Banknoten in Europa aus, die gegen Kupferplatten eingetauscht werden konnten. Die Scheine aus handgefertigtem Papier enthielten ein Wasserzeichen mit der Aufschrift «Banco», die Seriennummer wurde handschriftlich eingetragen.
Auch wenn die mit der Erlaubnis des schwedischen Königs gegründete Privatbank wenig später Konkurs anmelden musste und der windige Bankier Johann Palmstruch im Gefängnis landete, weil er mehr Geld druckte, als die Bank an realem Metallwert hinterlegt hatte, sollten sich die Banknote schnell als Zahlungsmittel in Europa durchsetzen.
Almosen per Kartenlesegerät
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Schweden, die Wiege des europäischen Bargelds, nun das erste Land sein könnte, das dieses abschafft. 80 Prozent aller Zahlungen werden inzwischen mit Kreditkarte oder kontaktlos mit mobilen Bezahl-Apps abgewickelt. Das im Umlauf befindliche Bargeldvolumen hat sich in den vergangenen sieben Jahren um 40 Prozent reduziert. Obdachlose in der Stockholmer Innenstadt nehmen Almosen per Kartenlesegerät entgegen.
Mitglieder von Kirchgemeinden entrichten ihren Zehnten via Textnachricht. In der Filadelfia-Kirche in Stockholm steht ein «Kollektomat», in dem man bequem mit Karte spenden kann. Strassenhändler kassieren mit einem Kartenlesegerät ab. Und selbst das Abba-Museum, der Erinnerungsort jener Popband, die mit dem Song «Money, Money, Money» weltberühmt wurde, akzeptiert nur noch Kartenzahlung. Bargeld könnte in Schweden bald ein Relikt der Vergangenheit sein.
Auch in anderen Ländern wird die bargeldlose Gesellschaft vorangetrieben. Die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi hat sozusagen über Nacht die beiden Rupien-Scheine mit dem grössten Nennwert, den 500er- und den 1000er-Rupien-Schein, aus dem Verkehr gezogen und damit rund 86 Prozent des im Umlauf befindlichen Bargelds für ungültig erklärt.
In Indien führte die Bargeldreform dazu, dass säckeweise Geldnoten in Flüsse geworfen oder verbrannt wurden.
Die Bargeldreform löste Chaos in dem Land aus: Vor den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, Ärzte weigerten sich, grosse Scheine anzunehmen, bei kleineren Geschäfte und Strassenhändlern blieb die Laufkundschaft aus. In Indien werden fast alle Geschäfte des täglichen Lebens bar getätigt. Auch Landkäufe werden grösstenteils bar abgewickelt. Zwar können die ungültigen 500- (rund 7.55 Franken) und 1000-Rupien-Scheine (rund 15.10 Franken) gegen andere Scheine eingetauscht werden, aber nicht mehr als der Wert 4000 Indischer Rupien (umgerechnet 60.39 Franken). Der Rest muss auf Konten eingezahlt werden.
Die währungspolitische Massnahme, die sich gegen Korruption und Geldwäsche richtete, führte dazu, dass Kriminelle, die Bargeld bunkerten, aus Angst, erwischt zu werden, säckeweise Geldnoten in Flüsse warfen oder die Scheine verbrannten. Bei einer Mülldeponie im Nordwesten des Bundesstaats Uttar Pradesh wurden Säcke geschredderter Geldscheine im Wert von mehreren Hunderttausenden Rupien abgelegt. Bargeld wurde zum Abfallprodukt.
Wo in Indien Millionen auf wertlosen Scheinen sitzen, wird andernorts das Hartgeld aussortiert. Die südkoreanische Zentralbank plant, das Münzgeld bis 2020 abzuschaffen. Südkorea ist eine der Volkswirtschaften, die am wenigsten auf Bargeld rekurriert. In dem ostasiatischen Land besitzt jeder Einwohner durchschnittlich 1,9 Kreditkarten, eine der höchsten Raten der Welt. Nur 20 Prozent der Geschäfte werden im Alltag mit Geldscheinen abgewickelt. «Wir können eine Menge Geld sparen, wenn wir kein Bargeld mehr nutzen, sagte Kim Seong-hoon, Wissenschaftler am Korea Economic Research Institute, der «Financial Times». «Wenn wir uns vom Bargeld verabschieden, könnten wir ein zusätzliches Wachstum von 1,2 Prozent generieren.»
Jede Transaktion wird gespeichert
Die Europäische Zentralbank zieht ab 2018 den 500-Euro-Schein aus dem Verkehr. Nicht, um die Wirtschaft zu stimulieren – das tut sie ja bereits im Rahmen des OMT-Programms und Quantitative Easing –, sondern um die Finanzströme der organisierten Kriminalität auszutrocknen. Die EU will zudem eine Bargeldobergrenze einführen. Der Ökonom Ken Rogoff, der in seinem jüngsten Buch «The Curse of Cash» für die Abschaffung des Bargelds plädiert, weist darauf hin, dass bei der Verhaftung des Drogenbosses Joaquín Guzmán («El Chapo») 200 Millionen Dollar in 100-Dollar-Noten gefunden wurden. Geld ist schmutzig, behauptet das Kreditkartenunternehmen Mastercard.
Doch hinter der sukzessiven Abschaffung des Bargelds könnten noch andere als währungs- und kriminalpolitische Motive stecken: In einer Welt ohne Bargeld kann jede Zahlung zurückverfolgt und überwacht werden. Man kann nicht einfach so einen Gebrauchtwagen für 10’000 Euro oder teuren Schmuck kaufen – jede Transaktion wird gespeichert. Datenschützer kritisieren, dass die Abschaffung des Bargelds auch zur staatlichen Überwachung genutzt werden könnte. In einer bargeldlosen Gesellschaft wird Geld in Zahlen und Signale konvertiert, und diese elektronischen Ströme werden per Glasfaserkabel über den Globus gejagt.
Die Abschaffung des Bargelds könnte ganze Bevölkerungsgruppen vom gesellschaftlichen Leben ausschliessen.
Wo Geld zur Information wird, sagt es auch viel über den aus, der es ausgibt. Kreditkarteninstitute oder mobile Bezahldienste könnten etwa staatlichen Behörden melden, wenn jemand eine Prepaid-Karte für ein Handy kauft. Weil Terroristen verstärkt mit solchen Prepaid-Handys kommunizieren, ist man damit verdächtig. Der amerikanische Soziologe Gary T. Marx argumentiert, dass Überwachung heute nicht mehr in einem Panoptikum stattfinde, sondern viel subtiler: in der Konsumgesellschaft. Kreditkarten sind dafür ein Beispiel. Man zahlt, ohne zu merken, dass die gesamte Zahlungshistorie überwacht wird.
Neben datenschutzrechtlichen Bedenken gibt es auch erhebliche soziale Probleme. Die Abschaffung des Bargelds könnte ganze Bevölkerungsgruppen, vor allem Arme, Ältere und Ungebildete, vom elektronischen Zahlungsverkehr und damit vom gesellschaftlichen Leben ausschliessen. Der «Guardian» zitierte einen Fischverkäufer in Goa: «Wir sind arme Leute. Ich bin nicht gebildet. Ich weiss nicht, wie ich all diese Maschinen bedienen soll. Wenn die Regierung morgen sagt, ich soll den Kartenleser benutzen, werde ich genarrt. Jemand anderes, der weiss, wie man das Gerät bedient, wird vielleicht die falsche Summe für die Transaktion eingeben. Woher soll ich wissen, dass sie mir den korrekten Betrag überweisen?»
Zwar hat die Regierung Bildungsprogramme aufgelegt. Doch die Frage ist, warum man Rikscha-Fahrer und fliegende Händler zum elektronischen Zahlungsverkehr zwingt. Bargeld sei gemünzte Freiheit, dozierte schon Dostojewski. Es hinterlässt keine Spuren und schützt die Privatsphäre. Der Verbraucher verliert mit der Abschaffung des Bargelds ein Stück Freiheit.