Alle wollen an der Technologiemesse SXSW in Austin, Texas, den ersten Blick auf das nächste grosse Ding erhaschen. Auch unser Korrespondent. Er hat sich dafür das grosse Ding vom Vorjahr zunutze gemacht: eine kleine Ansteckkamera, die alle 30 Sekunden ein Bild schiesst.
Manchmal reicht ein Schritt, um in der Vergangenheit anzukommen.
An der Theke reicht mir die grosse, rothaarige Frau den grünen Saft und senkt skeptisch den Blick: «Was ist das? Ist das eine Kamera?» — «Ja.» — «Ach, Mensch, echt? Du filmst mich jetzt?» – «Nein, nein, die macht nur hin und wieder ein Bild…», möchte ich sagen, aber sie lässt mich nicht. «Wow, das nervt ja. Da sind doch schon genug Kameras. Hört doch mal auf damit!»
Ich greife mir den Saft und flüchte zurück dahin, wo ich hergekommen bin, ins temporäre Epizentrum der Technologie-Welt. An der «South by Southwest» in Austin, Texas – einer Mischung aus Messe und Festival – treffen sich jedes Jahr Zehntausende, um in einer Woche neue Technologien zu feiern und in der nächsten neue Musik.
Google-Brille, Hype-Maschine
Hier sieht man an jeder Ecke einen, der eine Google-Brille auf der Nase sitzen hat, ein Stück Technik am Handgelenk trägt oder, ganz wie früher, ins iPhone starrt. Doch viel wichtiger: Hier kennt fast jeder das Ding an meinem Hemdkragen: ein «Narrative»-Clip. Vor einem Jahr war er hier noch unter dem Namen «Memoto» bekannt geworden, war der Hingucker unter all den Neuheiten. Schon damals brauchte es eine gut geölte Hype-Maschine, um im mittlerweile so gigantischen Festival aufzufallen.
«Wir haben es fast nicht glauben können, dass wir so gut angekommen sind», sagt der Schwede Oskar Kalmaru, der Macher meiner Hemdkragen-Kamera. Finanziert mit einer fantastisch erfolgreichen Kickstarter-Kampagne, mit der die Gründer rund eine halbe Million Dollar sammelten, bot es letztes Jahr am Festival die richtige Geschichte, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Nach dem Festival hat die Kamera Memoto eine Menge Schlagzeilen erhalten, und daraufhin drei weitere Millionen Dollar an Investmentgeldern sowie seinen neuen Namen: «Narrative».
6768 Fotos, alle 30 Sekunden eines
Erst kürzlich wurden die Kameras an die Vorbesteller verschickt, doch schon bewerben sich hier in Austin eine Reihe neuer Kandidaten um Aufmerksamkeit, Geld und möglicherweise das ganz, ganz grosse Geschäft. Und meine Kamera am Kragen zeichnet alles auf. Wann immer sie an meinem Hemd steckt, schiesst sie alle 30 Sekunden ein Bild.
Vor dem Schlafengehen schliesst man das Gerät an seinen Laptop an, von dort werden die Bilder an eine iPhone-App geschickt, auf der ich mir die Schnappschüsse dann ansehen kann. Die App ist meine Gedankenstütze für all jene flüchtigen Momente, an die ich mich sonst nicht erinnern würde.
6768 Fotos hat die Kamera während meines knapp einwöchigen Trips geschossen. Sie geben den Trip detailliert wieder: Der freundliche Taxifahrer, der mich von meiner Wohnung zum Flughafen fuhr, unzählige Podiumsdiskussionen und noch mehr Partys, die ich besuchte. Die Bilder davon sind so etwas wie die Antithese zu einem Instagram-Bild: Roh, schräg, teilweise verwackelt – kein Bild zum Angeben, sondern ein Erinnerungs-Impuls an das Gehirn.
Abgeschnittene Hände, Beine, Köpfe
Die Bilder sind zufällig geschossen, zeigen das echte Leben. Da passiert viel langweiliges, doch immer wieder mischt sich der Moment hinein, für den sich das Aufstehen gelohnt hat.
«Ein verschwommenes Foto von deinem Lunch ist nicht interessant. Doch schon nach zwei Wochen wird es interessant, weil du anfängst es zu vergessen», sagt Kalamaru.
Die App hat netterweise ein Drittel der Fotos herausgefiltert, die sie am besten fand. Auch manuell lassen sich besonders gute Bilder favorisieren, speichern oder mit Freunden teilen. All das, ohne dass ich auch nur einmal jemandem mein Telefon ins Gesicht hätte halten müssen. Alles läuft automatisch, das Ding geht schnell vergessen — am Hemdkragen oder im Hotelzimmer, in das mich bloss journalistische Gewissenhaftigkeit zurücktrieb, um den Clip wieder zu holen.
Die tragbaren Datensammler
Eines der Bilder zeigt Ashley Beattie, einen jungen Kanadier, der an etwas mitgebaut hat, das Enthusiasten fröhlich macht: Sein «Kiwi Move» gehört, wie auch «Narrative», zu der Kategorie der tragbaren Technologien, die dieses Jahr endlich die Massen erobern sollen. Beattie und andere wollen aus den sogenannten «Wearables» endlich den Multimilliardenmarkt machen, den Analysten schon eine Weile vorhersagen. Im Vorjahr wurden bereits einige hundert Millionen verdient mit Armbändern, die beispielsweise Schritte zählen oder allerlei Daten zu Joggingrunden aufzeichnen.
Unser Herzschlag als Türöffner
Doch da geht noch mehr, hoffen viele. Nebst dem «Kiwi Move» wurden noch eine Reihe anderer tragbarer Gadgets vorgestellt. Ein Armband, das unsere Identität anhand unseres Herzschlags feststellt, beispielsweise. Es öffnet Türen, entsperrt Laptops und Smartphones und autorisiert Zahlungen. Ein anderes, ein Helm, wirft Motorradfahrern nützliche Informationen direkt vors Auge. Ein weiteres, eine sündhaft teure Designer-Tasche, lädt iPhones und iPads.
Doch Ashley Beatties «Kiwi Move» sticht aus der Masse an Gerätschaften heraus, die dieses Jahr vorgestellt wurden. Das viereckige Stück ist vollgepackt mit Sensoren und einem Mikrofon. Ans Hemd gesteckt kann er so ziemlich alles aufzeichnen, was wir wollen. Befehle, beispielsweise um einen Musikplayer zu starten, nimmt das Ansteckteil per Handbewegung oder Sprachbefehl entgegen. Im Fitnesstudio zählt er die Klimmzüge oder die Push-ups, im Bett misst er die Qualität des Schlafes.
«Personalisierung ist das schlagende Argument für Wearables», sagt Ashley Beattie bei einem Kaffee und vergeicht andere Geräte mit den ersten Mobiltelefonen. «Die konnten auch nur telefonieren. Heute sind unsere Smartphones nicht mehr dieselben, weil sie viel, viel mehr können.» Wie das bei Smartphones inzwischen bestens bekannt ist, können für das Gerät Apps entwickelt werden, die aus dem Plastikstück ab Juli ein Wunderding machen sollen. Auch Google rechnet mit den Entwicklern und wird sein Betriebssystem Android bald für Wearables verfügbar machen.
Vielleicht ist das nächste grosse Ding Datenschutz?
Alles deutet darauf hin, dass Wearables das nächste grosse Ding werden. Welches Produkt innerhalb dieser neuen Produktkategorie zum Blockbuster wird, muss sich erst noch zeigen.
Doch da ist noch was anderes: Beattie und ich haben uns beim Kaffee schnell in einer Diskussion über Daten verloren. Kein Wunder, nach diesem dunkelsten Jahr für die Technologie-Branche. Die neuen Gadgets sammeln noch mehr, noch genauere Daten über uns. Und die sind alles andere als sicher, wie wir von dem Stargast des Tech-Festivals wissen: Edward Snowden, der letztes Jahr die grössten Enthüllungen zur Geheimdienstarbeit verantwortete.
Auch ihn hat meine Kamera aufgezeichnet in einem Moment, der sich beinahe historisch anfühlte: Tausende hörten gebannt zu, wie Snowden von der Tech-Industrie forderte, Verschlüsselungstools für die Massen herzustellen. Und von den etablierten Giganten, Verschlüsselung endlich ernst zu nehmen. Datenschutz als Strassenfeger? Gabs das schon mal? Möglicherweise ist ja Datensicherheit das nächste grosse Ding?
Es ist zu hoffen. Denn Wearables werden sich in der einen oder anderen Form durchsetzen — da war ich mir noch nie so sicher wie nach «SXSW» in diesem Jahr. Nicht zwingend wegen meiner kleinen Kamera. Die schmeisse ich bald wieder in die Ecke. Doch Googles Brille wirkte schon am Ende der Woche ganz normal: Einen der sie trug, sah ich auf einem Sofa sitzen. Der Mann direkt neben ihm, der sich ein Smartphone vors Gesicht hielt, wirkte auf mich viel bizarrer.
Doch da würde mir die rothaarige Frau von der Theke wohl nicht zustimmen.