Mit Zwang gegen die Stimmabstinenz?

Will die Jugend denn nicht an der Gestaltung ihrer Zukunft teilnehmen? Die Analyse des Abstimmungsverhaltens am 9. Februar macht das alte Problem der Stimmfaulheit wieder akut.

Stimmfaul: Im Schnitt stimmt nicht einmal jeder zweite Schweizer ab. (Bild: Keystone/Salvatore Di Nolfi)

Will die Jugend denn nicht an der Gestaltung ihrer Zukunft teilnehmen? Die Analyse des Abstimmungsverhaltens am 9. Februar macht das alte Problem der Stimmfaulheit wieder akut.

Die traditionelle Vox-Umfrage zum Stimmverhalten brachte ein schockierendes Resultat: Bloss 17 Prozent der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen unter 30 Jahren hätten an der Schicksalsabstimmung vom 9. Februar zur Masseneinwanderungsinitiative teilgenommen. Umgehen wurde die Stimmbeteiligung wieder zu einem Gegenstand unseres Nachdenkens. Eine Ironie des Schicksals sah man darin, dass ausgerechnet das akademische Jugendsegment, das zu einem (zu) grossen Teil von der Urne weggeblieben sei, nun das erste Opfer der Einschränkungen in der Personenfreizügigkeit mit der EU zu werden droht.

Die alte Wahrheit stimmt: Wer nicht politisiert, mit dem wird politisiert. Doch stimmen auch die 17 Prozent? Seit bekannt wurde, dass in Genf und St. Gallen die Stimmbeteiligung des gleichen Alterssegments bei 40 Prozent lag, redet man nun fast wieder mehr über die Vox-Erhebungsmethode als über die Stimmunlust der Jungen. Ein Sturm im Wasserglas also?

Vertrauen versus Verantwortung

Die Politabstinenz der jüngsten Altersgruppe ist sicher ein Problem. Es wird allseits anerkannt, dass die Beteiligung der bis 30-Jährigen unterdurchschnittlich und diejenige der ab 30-Jährigen überdurchschnittlich ist. Doch das Defizit bei den Jungen ist bloss ein Teilproblem innerhalb der verbreiteten Politabstinenz. Am 9. Februar lag die Stimmbeteiligung mit 56 Prozent zwar relativ hoch, 6 Punkte über der Abstimmung von 2009 zur letzten Erweiterung der Personenfreizügigkeit, aber doch 25 Punkte unter der EWR-Abstimmung von 1992 mit ihren 81 Prozent. Das allgemeine Problem lautet: Im Durchschnitt machen weniger als die Hälfte der Stimm- und Wahlberechtigen von ihrem demokratischen Privileg Gebrauch.

In absoluten Zahlen stellte sich das Problem so dar: Rund 2,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger nahmen an der Abstimmung vom 9. Februar nicht teil. Dafür mag es verschiedene Gründe geben, die man alle auch bei der Erklärung des Fernbleibens der jungen Erwachsenen aufführt: Eine teils zu Recht bestehende, teils aber auch nur als billige Ausrede eingesetzte Meinung, dass man als Einzelmaske keinen Einfluss habe und «die da oben» ohnehin nach Belieben schalten und walten würden. Dabei zeigt doch gerade das Resultat vom 9. Februar, dass 0,3 Prozent der Teilnehmenden einen Match entscheiden können.

Auch die umgekehrte Haltung kann zu Politikferne führen: Die Meinung nämlich, dass «die da oben» schon wüssten, was zu tun ist, und man dem Staat vertrauen könne. Wer diese Art von Vertrauen praktiziert, überlässt aber denjenigen das Feld, die sich über geschürtes Misstrauen mobilisieren lassen. Eine verantwortungsvolle Haltung würde erfordern, dass man jenseits von Vertrauen und Misstrauen im Recht auch die Pflicht zur Mitbestimmung sieht.

Stimmpflicht kann nicht die Lösung sein

Mit Pflicht ist hier zunächst nicht die formelle, sondern die freie staatsbürgerliche Pflicht gemeint. Die unfreie Pflicht wird als Stimmzwang bezeichnet. Die freie Pflicht bestand in früheren Zeiten im Ritual des automatischen Gangs zur Urne, fast wie bei der ausserdienstlichen Schiesspflicht der Wehrmänner. Die «neuen» oder modernen Stimmbürger praktizieren diese Pflicht unter stark wechselnder Teilnehmerschaft eher selektiv. Sie überlegen sich, ob die Vorlage dem eng verstandenen persönlichen Interesse entspricht.

Das legt die Frage nahe: Haben die 2,3 Millionen stimmberechtigten Schweizer und Schweizerinnen schlicht nicht gemerkt, dass die Vorlage vom 9. Februar – weil sie in fundamentaler Weise das Verhältnis der Schweiz zur EU betrifft – von allgemeinerem Interesse war und ist? Gemäss Vox-Analyse haben die Abstimmenden es durchaus gemerkt, aber als unwichtig taxiert!

Schaffhausen büsst Stimmverweigerer

Schaffhausen kennt als einziger Schweizer Kanton bis heute den Stimmzwang. Im Aargau ist er 1971 aufgehoben worden. Pflicht oder Zwang gibt es auch auf Gemeindestufe, im Bündnerland etwa in der Hälfte der Gemeinden. In Schaffhausen ist 1982 die Abschaffung deutlich – mit fast einem Zweidrittelsmehr – abgelehnt worden. Über 65-Jährige sind übrigens von der Stimmpflicht befreit, weil die alte Ordnung davon ausging, dass man sich persönlich ins Abstimmungslokal begeben müsse. Inzwischen geben über 75 Prozent ihre Stimme auf dem Korrespondenzweg ab.

An Entschuldigungsgründen lässt die Schaffhauser Kantonsverfassung unter anderem Militärdienst, Krankheit oder Trauerfälle gelten. Wer unentschuldigt nicht teilnimmt, wird mit drei Franken gebüsst. Eine Verdoppelung auf sechs Franken ist in Planung. Dabei geht es nicht um Beschaffen von Einnahmen, denn der administrative Aufwand frisst die 40’000 bis 80’000 Franken gleich wieder auf, und die Verwaltungskosten sind derart gestiegen, dass die Anhebung der Bussen zur Deckung des Aufwandes dient.

Man darf auch leer einlegen

Das Hauptziel, eine vergleichsweise hohe Stimmbeteiligung, wird mit dem Zwang tatsächlich erreicht. Umstritten ist die weitere politische Wirkung. Der Kantonsweibel kann keine «erhöhte politische Aktivität» feststellen. Die Politologin Isabelle Domokos dagegen verbucht in ihrer Lizentiatsarbeit von 2005 «mehr Wissen» und ein «höheres Interesse», und zwar quer durch alle Schichten.

In der derzeitigen Diskussion um die Stimmabstinenz ist – zu Recht – niemand auf die Idee gekommen, die Schaffhauser Spezialität auf die ganze Schweiz ausdehnen zu wollen. Freie Stimmabgabe bedeutet eben auch die Freiheit, keine Stimme abzugeben. Stimmpflicht oder Stimmzwang bedeuten jedoch nicht, dass man sich auch inhaltlich (materiell) beteiligen muss: Man darf auch leer einlegen. Oder Unsinn zum Besten geben, was im englischsprachigen Raum, wo es das offensichtlich auch gibt, als «donkey vote» (Eselsstimme) bezeichnet wird.

In der EU gibt es da und dort Reste eines Wahlobligatoriums, in Belgien etwa verbunden mit einer Geldstrafte, die bei wiederholtem Fernbleiben erhöht wird und um eine Streichung aus der Wählerliste erweitert werden könnte; oder in Griechenland, wo Sanktionen 2001 zwar abgeschafft wurden, die Wahlpflicht aber noch immer in der Verfassung verankert ist.

Bei Stimmzwang droht ein höherer Anteil an Unbedarften, die Opfer billiger Propaganda werden können.

Pflicht und Zwang haben, abgesehen davon, dass sich der selbstherrliche Souverän ungern gleichsam von sich selbt gängeln lässt, ihre schwachen Seiten: eine Erhöhung des Anteils von Unentschlossenen und Unbedarften, die leicht Opfer billiger Propaganda werden können. Eine punktuelle Mobilisierung von in der Regel eher stimmfaulen Miteidgenossen ist nicht unproblematisch, weil dann Leute aktiv werden, die mit der Politik wenig vertraut sind.

Das ist wie bei Autofahrern, die sich nur alle paar Jahre ans Steuer setzen. Gerade am 9. Februar hat sich gemäss Vox eine grosse Zahl von Bürgerinnen und Bürgern an die Urne begeben, die normalerweise von ihrer Stimmberechtigung keinen Gebrauch machen  – und sie haben die Abschottungs-Initiative natürlich gutgeheissen.

Eine sehr bedenkenswerte Erklärung für das offensichtliche Desinteresse an der gemeinsamen Regelung gemeinsamer Probleme liegt in der Zunahme der (entsprechend auch gepredigten) neoliberalen Mentalität, nur seine eigenen Interessen zu pflegen und an das persönliche Fortkommen zu denken. Politik kann aber nicht die Summe von Einzelhaltungen sein, sondern muss auf Schicksalsverbundenheit mit anderen beruhen.

E-Voting? Zu kurz gedacht.

Wenn nur rund 30 Prozent des jugendlichen Stimmsegments ihr Recht wahrnehmen (worauf die Analyse des letzten Urnengangs sich inzwischen eingependelt hat), dagegen 82 Prozent des Segments zwischen 60 und 69 Jahren mitmachen, dann besteht ein offensichtliches Ungleichgewicht – zumal die jüngere Bevölkerung gegenüber der älteren ohnehin in der Minderheit ist. Und es ist sonderbar bis widersinnig, dass Junge, die eine lange Zukunft vor sich haben, sich von deren Gestaltung abmelden, während die Alten mit kaum noch realer Zukunft heftig mitbestimmen.

Jetzt sehen viele die Lösung in der Einführung des E-Votings, weil das der jugendlichen Art entgegenkomme. Das ist aber zu kurz gedacht. Das Wesentliche beginnt vor dem Mausklick, also vor der wie auch immer durchgeführten Stimmabgabe, nämlich in der vorangegangenen Auseinandersetzung mit Zukunftsvarianten und im wach gewordenen Interesse für gesellschaftspolitische Fragen. Und so wendet man sich wieder einmal nicht nur an das Elternhaus (mit den abhandengekommenen oder nicht mehr die Politik betreffenden Tischdiskussionen) und an die liebe Schule.

Die Volksschule, die schon im 19. Jahrhundert viel zum Aufbau der jungen Demokratie beigetragen hat, soll, wie im Lehrplan 21 vorgesehen und von rechts heftig kritisiert, statt bloss technisches Anwendungswissen die Orientierungskapazität der jungen Menschen steigern. Anders gesagt: Die Schule muss die politische Bildung fördern.

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