Mord ohne Leichen

Wurden serbischen Gefangenen während des Kosovokrieges illegal Organe entnommen? Diese Frage spaltet die Bevölkerung in Serbien und im Kosovo bis heute. Es gibt weder Leichen noch Gräber, dafür Zeugenaussagen und geheime Dokumente. Die Angehörigen bezweifeln, dass die Wahrheit je ans Licht kommt.

Zeugen werden eingeschüchtert, Ermittlungen blockiert: Denkmal für gefallene UCK-Soldaten in Kosovska Mitrovica. (Bild: Monika Stepanek (n-ost))

Wurden serbischen Gefangenen während des Kosovokrieges illegal Organe entnommen? Diese Frage spaltet die Bevölkerung in Serbien und im Kosovo bis heute. Es gibt weder Leichen noch Gräber, dafür Zeugenaussagen und geheime Dokumente. Die Angehörigen bezweifeln, dass die Wahrheit je ans Licht kommt.

Für Silviana Marihkovic ist die Zeit am 19. Juli 1999 stehengeblieben. An diesem Tag, kurz nach dem Ende des Kosovokrieges, verschwand ihr Mann Goran. Bis heute fehlt von ihm jede Spur.

«Er sass mit zwei Bekannten in einem Lastwagen, als die Kosovarische Befreiungsarmee UCK sie auf der Strasse anhielt», erzählt die 40-jährige Serbin. Sie lebt in der serbischen Enklave Gracanica, etwa 15 Kilometer von der kosovarischen Hauptstadt Pristina entfernt. «Die Begleiter meines Mannes haben sie sofort getötet. Meinen Mann haben die Albaner mitgenommen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.»

Schrecklicher Verdacht

Marihkovic trägt wie viele andere Serben im Kosovo eine schreckliche Vermutung mit sich herum: Dass die UCK-Partisanen ihrem Mann die Organe entnommen und diese an ausländische Kliniken verkauft haben könnten. Seit dem Krieg in den Jahren 1998 und 1999, als Serben und Albaner um die Kontrolle des Kosovo kämpften, gelten immer noch 500 Serben als vermisst.

«Wenn man seit 14 Jahren auf jemanden wartet, der spurlos verschwunden ist, dann glaubt man irgendwann alles», sagt die dunkelhaarige Frau verzweifelt. Silviana Marihkovic zieht ihre zwei Töchter alleine gross, sie sind mittlerweile Teenager. Gemeinsam wohnen sie bei der Familie ihres Bruders, denn ihr Haus wurde im Krieg zerstört. Marihkovic lebt von einer Witwenrente, die die serbische Regierung ihr zahlt. Arbeit gibt es in der Gegend kaum. Die Arbeitslosigkeit unter den im Kosovo lebenden Serben liegt bei 70 Prozent.

Ermittlungen werden blockiert

Ob und wie viele Serben tatsächlich dem illegalen Organhandel zum Opfer fielen, ist bis heute nicht geklärt. Das Thema steht seit Jahren auf der Tagesordnung – nicht nur bei den Angehörigen, sondern auch bei den Politikern beider Länder. Die Kosovarische Regierung verkündet zwar volle Zusammenarbeit mit den EU-Ermittlern, doch streitet seit Jahren ab, dass im Krieg und kurz danach Organhandel stattgefunden habe. Auch Kosovos Premier Hashim Thaci soll Bescheid wissen. Während des Krieges war er UCK-Führer. Doch Thaci widerspricht den Gerüchten und droht allen, die sie verbreiten, mit einem Gerichtsprozess.

«Viele Menschen im Kosovo sehen bis heute nicht ein, dass es auch unter den Serben Opfer gab», sagt Marihkovic verbittert. Unterschwellig spielt diese Frage auch bei den laufenden Verhandlungen um die Anerkennung Kosovos durch Serbien eine Rolle. Zwar kündigten die Ministerpräsidenten beider Länder auf ihrem ersten Treffen in Brüssel an, die Sache aufzuklären. Sie nannten aber keine Details. Ebenso zäh läuft die Suche nach den Vermissten: Allein im Kosovo gibt es 20 verschiedene Organisationen, die sich mit dem Thema beschäftigen. «Jede handelt auf eigene Faust», beschwert sich Marihkovic.

Zeuge sagt im TV aus

Vor einem halben Jahr zeigte das serbische Staatsfernsehen RTS eine Aussage eines ehemaligen UCK-Soldaten. «Ich setzte das Skalpell an seine Brust und fing an zu schneiden. Das Blut spritzte in alle Richtungen», sagte der Ex-Soldat vor der Kamera. «Der Mann flehte, ihn nicht zu töten. Dann fiel er in Ohnmacht. Ich weiss nicht, ob er da sein Bewusstsein verlor oder schon starb».

Der serbische Staatsanwalt für Kriegsverbrechen Vladimir Vukcevic hält den Bericht für glaubwürdig: «Der Zeuge hat sich vor anderthalb Jahren bei der Staatsanwaltschaft gemeldet, weil man ihn im Kosovo mit dem Tod gedroht hat», sagt Vukcevic. «Wir haben seine Glaubwürdigkeit über 16 Monate sorgfältig geprüft.»

Doch auch in Serbien sind die Anschuldigungen umstritten. «Vukcevic ist ein Showman, er nutzt die Medien für politische Ziele», meint Maja Micic, Chefin der Organisation Youth Initiative for Humane Rights in Belgrad, die sich für die serbisch-kosovarische Verständigung einsetzt. Verdächtig war alleine der Sendetermin: Einen Tag, nachdem US-Präsident Barack Obama dem Kosovo zur vollen Souveränität gratuliert hatte. «Die Veröffentlichung der Zeugenaussagen hat nichts mit Professionalität zu tun. Sie schadet nur den Familien», kritisiert auch die serbische Menschenrechtlerin Natasa Kandic vom Zentrum für Menschenrechte in Belgrad.

Enthüllungen del Pontes 

Kandic bezweifelt aber nicht, dass die illegale Entnahme von Organen tatsächlich stattgefunden hat. Die Gräueltaten drangen bereits 2008 an die Öffentlichkeit, als Carla del Ponte, die ehemalige Chefanklägerin des UN-Tribunals in Den Haag, ihre Biografie veröffentlichte. Die im Kosovo stationierte internationale Gemeinschaft wusste allerdings bereits vor Jahren von dem grausamen Organhandel: Bereits 2003 dokumentierte ein geheimer Bericht der Mission der Vereinigten Nationen im Kosovo (UNMIK) Aussagen von acht Zeugen der ehemaligen UCK-Soldaten.

«Weder bei UNMIK noch bei anderen Organisation gibt es einen echten Willen, die Sache aufzuklären», zweifelt Silviana Marihovic. «Nach der Entführung meines Mannes war ich bei den britischen KFOR-Soldaten. Sie sagten mir, sie seien nicht zuständig. Ich bin also zu den Amerikanern gegangen. Und habe wieder das gleiche gehört. Ich habe die Tat bei der UN-Mission UNMIK gemeldet. Später habe ich erfahren, dass meine Aussage verschwunden ist.»

Immer die gleichen Fragen

Ab und zu melden sich bei Marihkovic die Mitarbeiter von EULEX, der EU-Mission im Kosovo, die mittlerweile in dem Fall ermittelt. Sie fragen nach Details, machen sich Notizen. «Einige Zeit später kommen die nächsten und stellen die gleichen Fragen. Und ich weiss nach wie vor nicht, was mit meinem Mann passiert ist», sagt Marihovic.

Der britische Anthropologe Alan Robinson sucht seit sechs Jahren im Kosovo nach vermissten Personen und identifiziert sie. Er hat Massengräber gesehen, in denen die menschlichen Überreste vor dem Begraben verbrannt und gemahlen wurden. Die Knochen, die er findet, sind kleiner als Geflügelknochen und eignen sich nicht mehr für die DNA-Analyse.

Die betroffenen Familien haben immer weniger Hoffnung, zu erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Silviana Marihkovic kennt den Entführungsablauf ihres Mannes genau. Unter den Zeugen war auch ein Nachbar der Familie. Vor einigen Jahren sagte er aus. Kurz danach wurde sein Bruder unter ungeklärten Umständen getötet. Der Mann zog seine Aussage zurück. 


Weitere Artikel zum vermuteten Organhandel in Kosovo und Carla del Ponte

Seit dem Erscheinen der Memoiren («Die Jagd – Ich und die Kriegsverbrecher») der ehemaligen Chefanklägerin des Internationalen Gerichtshofs Carla del Ponte, die 2008 erschienen sind, laufen Ermittlungen zu den von del Ponte geäusserten Vorwürfen, kosovarische UCK-Kämpfer hätten während des Kriegs mit Serbien, serbischen Bevölkerungsmitgliedern Organe entnommen und diese später verkauft. 

Organhandel im Kosovo? – Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» berichtet 2008 über den Vorwurf des Organhandels.

«Das Buch wird für Propaganda missbraucht» – Carla del Pontes Co-Autor Chuck Sudetic verteidigt die Tessiner Juristin, nachdem sie sich mit heftiger internationaler Kritik konfrontiert sah, im Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung».  

Martys Methode – Der Tessiner Nationalrat Dick Marty untersuchte im Auftrag des Europarats del Pontes Vorwürfe – und kam zum Schluss, dass sie zutreffen könnten. Die «NZZ» beleuchtet und hinterfragt kritisch Martys Vorgehensweise. Der Untersuchungsbericht findet sich hier.

Der Organhandel-Fall lässt del Ponte keine Ruhe – 2011 meldet sich del Ponte zurück und kritisiert, dass die Ermittlungen nicht vom Fleck kommen. Der «Tages-Anzeiger» berichtet darüber. 

Nächster Artikel