Mit Protesten im ganzen Land und Angriffen auf Polizeistationen und koptische Kirchen reagierten am Mittwoch aufgebrachte Mursi-Anhänger auf die gewaltsame Räumung ihrer beiden Protest-Camps in Kairo. Die Polizeiaktion forderte Dutzende Todesopfer. Als Reaktion trat Vizepräsident El Baradei von seinem Amt zurück.
Nur wenige Freudensalven begleiteten die Nachricht von der gewaltsamen Auflösung der beiden Pro-Mursi-Sit-ins. Schon um die Mittagszeit war klar, dass die Fernsehbilder vom Morgen den Anfang einer Gewaltwelle bildeten, die über die beiden Protestlager hinausschwappen würde. Wütende Anhänger des gestürzten Präsidenten, zum Teil unterstützt von erzkonservativen Salafisten, griffen Polizeistationen an und warfen Brandbomben gegen mehrere koptisch-christliche Kirchen in Oberägypten. Die Tamarod-Rebellen regten an, Volkskomitees zu bilden, um die christlichen Gotteshäuser zu schützen.
In mehreren Städten des ganzen Landes organisierten die «Allianz zur Unterstützung der Legitimität» Solidaritätskundgebungen. Mancherorts kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei, auch in mehreren Stadtteilen Kairos. Der Eisenbahnverkehr nach Norden und nach Süden wurde eingestellt. Die Banken machten ihre Schalter um die Mittagszeit dicht.
Auf den Strassen der Mega-City war kaum Verkehr. Viele Firmen bleiben geschlossen. Strategisch wichtige Installationen wie der Flughafen wurden besonders geschützt. Das Kabinett trat zu einer Krisensitzung zusammen; es will an dem politischen Tansformationsfahrplan festhalten. Der Scheich der al-Azhar-Moschee, der den letzten gescheiterten Vermittlungsversuch unternommen hatte, rief alle Seiten auf, das Blutbad zu beenden.
Hardliner setzen sich durch
Um sieben Uhr am Morgen hatten Militärhelikopter über dem Stadtzentrum von Kairo die lang gehegten Befürchtungen zur Gewissheit werden lassen. Die Sicherheitskräfte begannen damit, die beiden Lager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Rabaa al-Adawiya und auf dem Nahda-Platz vor der Kairoer-Universität aufzulösen. Dort fuhren sie mit schweren Bulldozern auf. Walzten die Dutzenden Zelte nieder und vertrieben die Menschen mit Tränengas. Die Demonstranten reagierten mit dem Abbrennen von Autoreifen.
Am späteren Mittwochnachmittag überschlugen sich in Ägypten die Ereignisse. Vizepräsident El Baradei trat als Reaktion auf die schweren Ausschreitungen von seinem Amt zurück. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden.
Nach weniger als zwei Stunden meldeten die staatlichen Medien, der Nahda-Platz sei geräumt. Es hätte zahlreiche Verhaftungen gegeben von Demonstranten, die im Besitz von Waffen gewesen seien, meldeten die Behörden, die für diesen Schauplatz 15 Tote und über 170 Verwundete bestätigten. Alle Strassen, die zum Nahda-Platz führen, blieben vom Polizei und Militär weiträumig abgeriegelt.
Ein Zündfunke
Das Nahda-Camp war zwar das kleinere – jeweils einige Hundert harrten über Nacht aus –, aber das strategisch wichtigere, weil es sehr nahe am Stadtzentrum gelegen ist. Die meisten der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern hatten in den vergangenen sechs Wochen in dieser Gegend stattgefunden. Zum letzten Mal am Dienstagabend, als die Muslimbrüder in ganz Kairo mehrere Protestzüge veranstalteten. Sie waren vor mehrere Ministerien in der Stadtmitte gezogen. Einer ihrer Anhänger war erschossen worden.
Diese Strategieänderung könnte der Zündfunke dafür gewesen sein, dass Regierung und Sicherheitskräfte ihre seit Wochen angekündigte Räumungsaktion nun in die Tat umgesetzt haben. Die Vereidigung von neuen Gouverneuren am Dienstag, die wie zu Mubaraks Zeiten fast ausschliesslich aus Militär und Polizei stammen, deutet zudem darauf hin, dass sich in der ägyptischen Übergangsführung jene Kreise durchgesetzt haben, die für eine harte Haltung gegenüber den Islamisten eintreten.
«Wir sind keine Terroristen»
Im Protestcamp Rabaa al-Adawiya im Vorort Nasr City ist die Lage komplizierter. Dort haben sich viele Tausend Morsi-Anhänger seit sechs Wochen eingerichtet. Rabaa al-Adawiya ist zu einer kleinen Stadt geworden, aus der sich die Demonstranten, darunter viele Frauen und Kinder, auch unter Waffengewalt nicht vertreiben liessen. Einpeitscher auf der Bühne schrien, «Wir sind Ägypter, wir sind Muslime, wir sind keine Terroristen, aber die Armee tötet uns». Dieses Camp ist die wichtigste Bastion der Muslimbrüder in ihrem Kampf gegen ihre Verdrängung von der Macht. Hier haben sich mehrere jener Führungskader verschanzt, die nach dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten am 3. Juli noch nicht verhaftet wurden.
Das Innenministerium liess wissen, es gebe Korridore über die jene Demonstranten, die freiwillig den Platz verlassen wollten, ungehindert abziehen könnten. Ihnen wurde auch zugesagt, dass sie nicht verfolgt würden. Die Demonstranten zeigten aber wenig Bereitschaft, auf den friedlichen Protest zu verzichten. Das sei ein blutiger Versuch, jede Stimme gegen den Militärputsch auszulöschen, twitterte Jihad Haddad, einer der Sprecher der Muslimbrüder. Von «Massaker» und «Genozid» sprach Mohammed al-Beltagy, Führungsmitglied der Partei der Muslimbrüder.
Brutaler Polizeieinsatz
Die Sicherheitskräfte gingen mit grosser Brutalität gegen die Demonstranten vor. Es gab viele Tote und Verletzte, deren Zahl sich im allgemeinen Chaos schwer schätzen liess. Jede Seite veröffentlichte ihre eigenen Angaben. Das Innenministerium meldete sechs tote Polizisten. Die Muslimbrüder berichteten von Hunderten Toten und Verwundeten. Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP erklärte, er habe in drei Leichenhäusern insgesamt 124 Tote gezählt. Die Ärzte und Helfer in dem notdürftig eingerichteten Feldspital in Rabaa al-Adawiya waren völlig überfordert. Augenzeugen beschrieben in lokalen Medien eindrücklich den massiven Einsatz von scharfer Munition, den die Sicherheitskräfte stets verneinten. In den Wochen seit dem Sturz Mursis waren bereits über 250 Todesopfer gezählt worden.