«Mursi? Wollen Sie die Idee des Wandels beleidigen?»

Der ägyptische Schriftsteller Chalid al-Chamissi hat mit «Arche Noah» ein Buch über ein Land geschrieben, in dem die Einwohner vor Verzweiflung über das autoritäre Regime schier ersticken. Heute Abend liest er im Literaturhaus. Wir haben mit ihm über den Wandel in Ägypten, die Muslimbrüder und die Schuld der USA gesprochen.

Der ägyptische Schriftsteller Chalid al-Chamissi hat mit «Arche Noah» ein Buch über ein Land geschrieben, in dem die Einwohner vor Verzweiflung über das autoritäre Regime schier ersticken. Ein Gespräch über den Wandel in Ägypten, die Muslimbrüder und die Schuld der USA.

Alle wollen sie auf die Arche. Der junge Jurist, der per Online-Chat eine amerikanische Ehefrau sucht, der Koch und Sänger, der via Flug nach Südamerika den Marsch in die USA auf sich nimmt, der Philosophiedozent, der dem geistesfeindlichen Klima in seiner Heimat mit einem Lehrauftrag nach England entflieht, und all die, die nichts haben ausser ihre kleinen, vererbten Grundstücke oder eine ihrer Nieren, die sie verkaufen um mit Schleppern von Nordafrika übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Der ägyptische Schriftsteller Chalid al-Chamissi (50) hat mit «Arche Noah» ein Buch über ein Land geschrieben, in dem die Einwohner vor Verzweiflung über das autoritäre Regime schier ersticken. Sein Land.

«Arche Noah» beschreibt Ägypten in den letzten Zuckungen vor dem Sturz Mubaraks. Al-Chamissi, wohnhaft in Kairo, verwebt darin die Wege von elf Einzelschicksalen zu einer einzigen Erzählkette und erweckt damit den Eindruck, dass jede und jeder einen Bruder, einen Cousin oder einen versprochenen Ehemann hat, der sein Glück in Nordamerika, in den Golfstaaten oder in der Festung Europa sucht. Trotz der Tragik gelingt al-Chamissi eine Erzählung, die mit Humor zu glänzen vermag, denn: «Ägypter sind Helden des Humors, auch in den schlimmsten Momenten. Das haben wir lernen müssen, leider», so der Autor. Am Mittwoch, 12. Juni, ist er im Literaturhaus Basel zu Gast.

Herr al-Chamissi, in Ihrem Buch «Arche Noah» sagt ein nach England emigrierter ägyptischer Philosophieprofessor zu seiner britischen Frau, Ägypten sei ein Vulkan, der kurz vor der Eruption stehe. Das Buch erschien in der Originalausgabe 2009, zwei Jahre vor dem Sturz Mubaraks. Ein prophetischer Dialog.

Das sagen Sie und die westlichen Medien. Die Situation ist noch immer dieselbe. 2011 bedeutete keine Eruption. Was ich und viele andere meiner Landsleute Tag für Tag erleben, ist ein Prozess, der 2004 begonnen hat. Seither entwickelt er sich. Aber am Kopf der Pyramide ist die Situation dieselbe geblieben, nur die Gesichter haben nach Mubaraks Rücktritt gewechselt.

Immerhin fand ein Machtwechsel statt.

Aber kein Wandel. Wie zuvor haben wir konservative Kräfte an der politischen Macht, eine enorme Krise und ein System, das nicht funktioniert. Daneben läuft der revolutionäre Prozess weiter. Von unten nach oben.

Sie haben 2004 erwähnt. Welche Wende markierte dieses Jahr?

2004 begannen die ersten grösseren Streiks, die das Bedürfnis nach Wandel audrückten. Ein Jahr später wurden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten sowie eine Verfassungsänderung durchgesetzt, die den Übergang der Macht von Präsident Mubarak auf seinen Sohn Gamals regeln sollte. Damals waren die Rufe zum ersten Mal zu hören: «Genug! Beendet die Komödie! Nichts funktioniert in diesem Land!» Aber es trat keine politische Kraft auf, die sich des Verlangens nach Wandel annahm.

Was ist mit Mohammed Mursi und der Muslimbruderschaft?

Mursi? Wollen Sie die Idee des Wandels beleidigen? Die Muslimbrüder repräsentieren ein Denken, das 1400 Jahre alt ist, aber ich spreche von der Zukunft! Man kann doch nicht eine konservative Kraft mit einer noch konservativeren ersetzen und danach auf einen Wandel hoffen. Aber Sie stellen ziemlich politische Fragen. Wollen Sie nicht über mein Buch reden?

(Bild: zVg)

Chalid al-Chamissi: «Arche Noah», Lenos Verlag Basel. 407 Seiten, Fr. 32.–, ISBN 978 3 85787 422 2

Sofort. Ist «Arche Noah» denn kein politisches Buch?

Das Buch ist kein Bericht, sondern ein literarisches Werk. Literatur ist nicht an Zeit gebunden. Selbst Texte, die tausende Jahre alt sind, können heute noch zu uns sprechen.

«Arche Noah» handelt allerdings von der konkreten Verzweiflung, die Menschen erfasst, wenn sie von ihrem Land im Stich gelassen werden. Da hat sich seit 2009 nichts geändert?

Verändert hat sich das Engagement der jungen Menschen. Wie Sie vielleicht wissen, sind 60 Prozent der ägyptischen Bevölkerung unter zwanzig Jahre alt. Das Problem von Journalisten ist, dass sie täglich Neuigkeiten benötigen und ein Szenario beschreiben, laut dem während den 18 Protesttagen im Februar 2011 bis zum Rücktritt Mubaraks das Land umgekrempelt worden sei. Aber um soziale Verhältnisse zu ändern, benötigt man Jahrzehnte. Das erfordert einen Wechsel des sozialen Denkens, erfordert neue Konzepte der Solidarität, der politischen Kultur, der Ethik. All das ist wahnsinnig interessant, nicht nur für Ägypten, sondern für viele Länder – aber wohl weniger für die Medien.

Konzepte, Ethik – alles sehr abstrakt. Können Sie Beispiele nennen?

Vor kurzem besuchte ich eine Stadt nördlich von Kairo. Dort traf ich Jugendgruppen, die sich dem Theater und der Musik widmen, und entdeckte, dass sie neue Lieder und neue Stücke schreiben. Und morgens säubern sie die Strassen. Und überlegen weiter, wie sie die Stadt lebenswerter gestalten können. Das sind junge Leute, 18 oder 20 Jahre alt. Vor zehn Jahren hätte man sich diese Energie und Produktivität unmöglich vorstellen können. Das ist komplett neu, und in anderen Städten ähnlich. Die Zivilgesellschaft entwickelt sich neu, die Menschen übernehmen soziale Verantwortung für ihre Freunde und ihre nächste Nachbarschaft.

In «Arche Noah» klingen Ihre Charaktere längst nicht so hoffnungsvoll. Alle wollen Ägypten verlassen, per «Businessheirat», über See und durch Tunnels, durch Familiennachzug. Allen schnürt das Land die Luft ab.

Alle Charaktere des Buches sind in einer totalen Krise – nicht nur finanziell. Die Krise ist existenziell, und diese Situation wollte ich einfangen: die totale Krise. George Orwell hat in «1984» meiner Meinung nach dasselbe ausgedrückt: das Gefühl, dass alles falsch läuft. Warum förderten die Machthaber in Ägypten das Chaos, warum schnürten sie jede Privatinitiative ab, warum tyrannisierten sie das Volk mit absurden Verordnungen und Schikanen? Die Antwort ist einfach: um ein Gleichgewicht der Schwäche zu gestalten. Sind alle Mitglieder eines Staates im Zustand der völligen Schwäche gehalten, bleiben sie auf die Mächtigen angewiesen, um überleben zu können. Darauf ist das System Ägyptens noch heute aufgebaut: auf die geförderte Schwäche der Menschen.

«80 Prozent der Kinos, Theater und Konzerthallen sind verschwunden. All das verdanken wir dem US-Kolonialismus.»

Im letzten Kapital Ihres Buches schaut eine ältere Frau auf die nachfolgende Generation und registriert mit Entsetzen, dass alle ihr Glück woanders versuchen und «die Arche» nehmen wollen. Ein Unterschied zur vorangehenden Generation in den Siebzigern und Achtziger Jahren, die ihr Leben noch zuversichtlich im Land bestreiten konnte. Was hat sich in den dreissig Jahren geändert?

Darauf gibt es eine einfache Antwort: vergleicht man die Menge der Kinos, Theater und Konzerthallen in den Jahren 1975 und 1995, sind 80 Prozent verschwunden. 80 Prozent! Und nicht nur in Ägypten, auch in Syrien, im Irak, in Tunesien, Algerien. Wir haben den Grossteil unserer Kulturhäuser verloren. All das verdanken wir dem US-Kolonialismus.

Dem US-Kolonialismus?

Ja. Seit Mitte der Siebziger Jahren, mitten im Kalten Krieg, begann die USA die religiösen Strömungen in den arabischen Ländenr zu unterstützen, da sie sich als Verbündete gegen sozialistische, von der Sowjetunion unterstütze Regimes anzubieten schienen. Die USA haben also Unmengen an Geld in die religiösen Bewegungen gesteckt und damit das Desaster verursacht, das wir heute haben.

Ihre Ernüchterung ist bezeichnend. 2011, kurz nach Mubaraks Rücktritt, veröffentlichten sie ein Essay, das auch in deutschsprachigen Zeitungen veröffentlich wurde. Er war von Euphorie und Enthusiasmus durchtränkt.

Ich habe viele politische Artikel geschrieben, manche waren pessimistisch, manche optimistisch. Der revolutionäre Prozess läuft weiter, Schritt für Schritt. Es ist doch normal, dass sich 40 Jahre Stillstand nicht in zwei, drei Jahren ändern lassen.

Man spricht davon, dass aus dem arabischen Frühling bereits ein Winter geworden sei.

Das ist Blablabla. Gewäsch der Medien, völlig uninteressant. Mein Buch handelt vom Gefühl, dass wir am Ende einer Periode angekommen sind. Unser Land ist ein toter Körper, der bereits faul riecht. «Arche Noah» handelt von Menschen, die ihre Richtung verloren haben, denen die Flügel gestutzt wurden. Gestutzt von einer Gewalt der Hässlichkeit, der Dummheit und der Bösartigkeit.

Intellektuelle und der Arabische Frühling. Mit Chalid Al-Chamissi und Susanne Schanda, Moderation: Jasmin El-Sonbati. Literaturhaus Basel, Mittwoch 12. Juni, 19 Uhr.

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