Nach 17 Jahren wieder vereint

Der stadtbekannte Strassenwischer Dalip Singh Khalsa erlebt mit seiner Frau einen zweiten Frühling. Auf Zeit.

Dalip Singh Khalsa in seiner Zweizimmerwohnung: Er betet dafür, dass er seine Frau standesamtlich heiraten darf. (Bild: Danish Siddiqui )

Der stadtbekannte Strassenwischer Dalip Singh Khalsa erlebt mit seiner Frau einen zweiten Frühling. Auf Zeit.

Frühmorgens fegt Dalip Singh Khalsa mit seinem Reisigbesen rund um den Claraplatz die Spuren der vergangenen Nacht weg. Er leert die mit Take-away-Müll überfüllten Abfall­eimer und sammelt Bierdosen zusammen. Stets mit seinem orangen ­Turban auf dem Kopf. Immer fleissig, oft mit einem Lächeln. Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert. Und doch ist vieles anders geworden im Leben des 59-jährigen Inders, der Ende Januar 2008 hätte ausgeschafft werden sollen und damit in Basel ­einen Solidarisierungs-Tsunami auslöste. Wenn der stadtbekannte ­Strassenreiniger von der Arbeit nach Hause kommt, ist er nicht mehr alleine. Es wartet jemand auf ihn. Seine Frau aus Indien.

Wir sitzen in Khalsas enger Zweizimmerwohnung am Claragraben. Er hat sie spärlich eingerichtet. Die Wände sind kahl, zwei kleine Pflanzen und eine Plastik-­Sonnenblume sorgen für ein bisschen Farbe. Seit rund einem Jahr ist das die Bleibe des Ehepaars. Zuvor hatte der Sikh eine Einzimmerwohnung. Als er erfuhr, dass seine Frau das Visum bekommt, suchte er ein grösseres Domizil. Für die befristete gemeinsame Zukunft.

Das dunkle Kapitel

Khalsas Frau, Sukhwant Kour, ist in der Küche beschäftigt. Sie trägt breite, hellrosarote Hosen, ein weisses Kleid mit Blumenmuster und einen blauen Schal darüber. Die Haare, es sind nur wenige weisse darunter, sind streng zusammengebunden. Sie redet nicht viel. Fotografiert werden will sie nicht. Aus Angst vor Konsequenzen in Indien – schliesslich ist sie mit ­einem ehemaligen Luftpiraten verheiratet.

Wenn Dalip Singh Khalsa von seiner Frau spricht, fasst er sich ans Herz: «Nie hätte ich gedacht, dass sie das Visum erhält. Ich bin glücklich, dass sie hier ist. Sie musste sich in all den Jahren in Kaschmir alleine um alles kümmern – um unsere drei Töchter und um das Haus.» 17 Jahre hatte der Sikh seine Frau nicht mehr gesehen. Das Schicksal wollte es so.
Es ist ein dunkles Kapitel in Khalsas Leben. Im Juli 1984 entführte er mit anderen Sikhs ein Flugzeug der ­Indi­­an Airlines mit 264 Passagieren nach Pakistan, um auf die Unter­drückung der Sikhs aufmerksam zu ­machen. Dafür sollte er nicht ungeschoren davonkommen: Elf Jahre wartete Khalsa in Pakistan in einer Einzelzelle auf seine Hinrichtung. Seine Frau durfte ihn nur ein einziges Mal im ­Gefängnis besuchen – für zwei Stunden.

Fernsehen, stricken, putzen

Nach seiner Begnadigung und Entlassung im Jahr 1995 traute er sich nicht zu seiner Familie zurück. Zu gross war seine Angst vor der indischen Justiz. Khalsa beantragte Asyl in der Schweiz. In den letzten 17 Jahren war das Paar, das 1976 religiös geheiratet hat, nur durch das Telefon miteinander verbunden. Bis letzten Dezember. Wie das Wieder­sehen nach fast zwei Jahrzehnten war, können Dalip Singh Khalsa und Sukhwant Kour nicht in Worte fassen. Ohnehin fällt es ihnen schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. In ihrer Kultur gehört sich das nicht.

Inzwischen hat sich Kour gut in Basel eingelebt. «Es war schon eine Umstellung für mich. In Indien hat es so viele Menschen auf der Strasse, hier sind die Strassen menschenleer. Aber solange ich mit meinem Mann zusammen bin, ist ­alles andere ­Nebensache», sagt die 57-Jährige. Machen kann sie nicht viel – ausser einkaufen, fernsehen, stricken, putzen und kochen. Dies ganz zur Freude ihres Mannes. «Seit sie hier ist, habe ich den Herd nicht mehr berührt.» Oft würden sie über ihre Enkelkinder sprechen und zusammen beten.

Das Glück der beiden wird allerdings nicht mehr lang währen. Im Dezember läuft Sukhwant Kours Tou­risten­­visum ab. Dann geht sie zurück zu den drei erwachsenen Töchtern, die der Stadtreiniger zuletzt in Windeln gesehen hat. Khalsa mag nicht an diesen ­Moment denken. ­Seine Stimme wird leiser, er ringt mit den Händen: «Ich will, dass sie bleibt.»

Beten, dass es gut kommt

Dieses Mal erhielt Kour das Visum nur, weil sie den Besuch mit gesundheitlichen Problemen ihres Mannes begründen konnte. In den letzten zwei Jahren machten Khalsa Herzprobleme­ zu schaffen – und der Tod seines ­Vaters. Der Hundertjährige starb im Dezember 2010, wenige Tage nachdem das Bundesamt für Migration den Härtefallantrag des Strassen­wischers bewilligt hatte. «Das war ein schlimmer Moment für mich. Dank ihr geht es mir wieder besser – auch gesundheitlich.»

Damit sie es künftig einfacher hat, in die Schweiz zu kommen, will Khalsa­ hier nochmals heiraten – diesmal standesamtlich. Keine einfache Sache. Denn dafür braucht er eine ­Geburtsurkunde und den Nachweis, dass er ledig ist. Papiere, die er nicht vorweisen kann, weil sie in Indien sind – falls der Staat sie überhaupt noch hat.

Unterstützung erhält das Paar nun von einem Anwalt und von ­SP-Grossrat Atilla Toptas. Das Zivilgericht wird sich demnächst mit den fehlenden Papieren beschäftigen müssen. Khalsa sagt, dass er sich ­grosse Sorgen mache, und schaut nach oben: «Ich bete dafür, dass alles gut kommt.» Genauso intensiv wie damals, als es um seine Ausschaffung ging.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12

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