Neue Ökonomen braucht die Welt

Die Ökonomen haben versagt. Ihre wirtschaftspolitischen Rezepte haben die Krise noch verschärft. Der zentrale Fehler der modernen Ökonomie ist, dass sie sich auf unbegrenzte, abstrakte Geldeinheiten fixiert. Ökonomen sollten verstehen, dass der Tag 24 Stunden hat, dass Bedürfnisse endlich und dass Ressourcen beschränkt sind.

Ökonomen machen es sich zu einfach: Staaten sind nicht einfach Wirtschaftsstandorte. Eigentlich sollten sie da sein, um die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen abzudecken. (Bild: Reuters)

Die Ökonomen haben versagt. Ihre wirtschaftspolitischen Rezepte haben die Krise noch verschärft. Der zentrale Fehler der modernen Ökonomie ist, dass sie sich auf unbegrenzte, abstrakte Geldeinheiten fixiert. Ökonomen sollten verstehen, dass der Tag 24 Stunden hat, dass Bedürfnisse endlich und dass Ressourcen beschränkt sind.

Die Diskussion um Sinn und Unsinn der Mainstream-Ökonomie ist in jüngster Zeit viel lauter geworden. Zur Jahrtausendwende haben rebellische Ökonomiestudenten in Frankreich den Arbeitskreis «postautistische Ökonomie» begründet, der sich heute «Real World Economics» nennt. Ihre inzwischen sehr zahlreichen Anhänger sind sich darin einig, dass sich die Ökonomie von ihrem selbstbezogenen (autistischen) Nachdenken über rein theoretische Denkmodelle lösen muss.

Die kritisierten Modelle gehen von einem rationalen Homo oeconomicus aus, der dauernd damit beschäftigt ist, den eigenen Nutzen zu maximieren. Diese Modelle beweisen angeblich auch, dass sich die Märkte im Gleichgewicht einpendeln, sofern die Politik für genügend Konkurrenz sorgt. Eine zentrale Schlussfolgerung dieser Theorie ist, dass die Arbeitslosigkeit verschwindet, der Markt also ins Gleichgewicht kommt, wenn man bloss die Arbeitsmärkte genügend dereguliert. Dass diese Modelle überholt sind – darüber sind sich die Postautisten einig.

Ein anderes Menschenbild

Weniger einig sind sie sich darüber, was denn nun an die Stelle der alten Gleichgewichtstheorien treten soll. Einige setzen den Hebel bei der linearen Mathematik an und versuchen, wirtschaftliche Zusammenhänge in neue Formeln zu giessen. Andere setzen mehr beim Menschenbild an. Sie berufen sich auf Experimente, Soziologen und Psychologen und stellen fest, dass der «Wirtschaftsakteur» nur unter seltenen Ausnahmebedingungen als «Nutzen­maximierer» funktioniert.

In die zweite Gruppe von Kritikern gehört etwa Professor Thomas Straubhaar, der neulich in Zeitungsinterviews seinen alten Theorien abgeschworen hat. «Es gibt seit Jahren neuere Forschungszweige wie die Verhaltensökonomie, die nicht von einem abstrakten Homo oeconomicus ausgeht, sondern vom realen Menschen. Das Problem ist, dass diese Erkenntnisse bisher zu wenig in wirtschaftspolitisch relevante makroökonomische Modelle eingebaut worden sind. Da ist noch viel zu tun.»

Aus diesen neuen Ansätzen liesse sich immerhin die Erkenntnis ableiten, dass die Wirtschaft eben nicht zu stabilen Gleichgewichten tendiert. Genau davon aber gehen die beiden wichtigsten, rivalisierenden Denkrichtungen aus. Gemäss Harvard-Ökonom Paul Krugman, dem wichtigsten Sprachrohr der Keynesianer, genügen ein paar 100 Milliarden Dollar zusätzliche Staatsausgaben, um die US-Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Die neoliberale Gegenposition, vertreten etwa durch US-Präsidentschaftskandidat Mitt Romney, will die Wirtschaft mit Steuersenkungen für die «Leistungsträger» auf Leistung trimmen. Hinter beiden Thesen steckt das Gleichgewichtsmodell mit dem Homo oeconomicus.

Jeffrey Sachs von der Columbia University hat Mitte Juli in einem Gastkommentar der «Financial Times» sowohl Romney als auch Krugman als «Ideologen der Dreissigerjahre» kritisiert und ihnen vorgeworfen, wesentliche Faktoren auszublenden. Sachs nennt unter anderem: die Begrenzung der natürlichen Ressourcen, den mangelnden steuerlichen Zugriff der nationalen Regierungen auf die global tätigen Multis und vor allem die zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen.

Struktur und Schwankungen

All dies sind «strukturelle Probleme», während die alten Gleichgewichtstheorien – Krugmans Keynesianismus inbegriffen – immer noch davon ausgehen, dass es nur darum geht, konjunkturelle Schwankungen zu glätten. Sachs trifft einen wunden Punkt.

Wirtschaftspolitik ist zur Konjunktursteuerung mit zwei Instrumenten verkümmert – Zinsen und Staatsausgaben. Zwar ist gerade in der EU viel von Strukturreformen die Rede. Doch damit ist meist nur die Beseitigung von «Markthemmnissen» gemeint – etwa Kündigungsschutz und Mindestlöhne –, die den Markt angeblich daran hindern, sein Gleichgewicht zu finden. Aus dieser Sicht besteht die Aufgabe der Wirtschaftspolitik darin, die «Maschine» Volkswirtschaft in Gang zu halten und den Standortwettbewerb gegen andere Volkswirtschaften zu gewinnen.

Das Hauptproblem der Ökonomie ist diese enge Sichtweise. Es ist nicht die sogenannte «Mikrofundierung», also die Frage, wie das Wirtschaftssubjekt wirklich tickt. Wer seinen Blick ausschliesslich darauf richtet, übersieht die wirklichen Probleme. Die groben Fehler, welche die EU etwa in Griechenland und Portugal gemacht hat und jetzt in Spanien wiederholt, lassen sich durch diese falsche Optik erklären: Man sieht die Länder ausschliesslich als Standorte, die sich im Standortwettbewerb bewähren müssen. Volkswirtschaften sind dazu da, die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu decken. Exporte dienen bloss zur Finanzierung der nötigen Importe. Verwechselt man die Volkswirtschaft mit einem Standort und trimmt sie auf Export, geht sie kaputt. Griechenland erlebt das gerade.

Die Ökonomie muss sich auf die Grundlagen besinnen: Wir haben beschränkte Ressourcen, mit denen wir endliche Bedürfnisse befriedigen. Das Problem der knappen Ressourcen ist bekannt. Zu wenig bewusst ist uns, dass unsere Bedürfnisse, kollektive und private, auch begrenzt sind: Wir haben nur 24 Stunden, die uns täglich für Konsum und Produktion zur Verfügung stehen. Es gibt die Familie, die Unternehmen und die Gesellschaft, die Ansprüche auf unsere Zeitverwendung stellen, die Arbeitsteilung, den Rhythmus der Generationen.

Das sind die Rahmenbedingungen, in welche die Wirtschaft und ihre Institutionen eingebettet sind. Geld ist auf einer anderen, nachgeordneten Ebene angesiedelt – eine soziale Konvention, die den Anspruch auf Ressourcen regelt.
Auf diesen Grundlagen muss die Ökonomie wieder aufbauen. Die Bedürfnisse sind nicht unendlich, auch wenn dies aus der Sicht des einzelnen Betriebes oder Landes, dem die ganze Welt als Absatzmarkt offensteht, so aussehen mag. Produktion und Konsum brauchen Zeit und der Tag hat nur 24 Stunden.

Eine steigende Produktivität beeinflusst zwingend die Aufteilung unseres Zeitbudgets auf Produktion, Konsum und Freizeit. Sie verändert auch unsere Position in der Bedürfnispyramide. Der Zeitbedarf für kollektive Güter wie Gesundheit, Sicherheit, Bildung und weiteres nimmt zu. Das stellt neue Anforderungen an den Staat und an die Finanzierung dieser Güter und Dienstleistungen.

Elementare Zusammenhänge

Die moderne Ökonomie denkt die ganze Wirtschaft vom Geld her. Zurzeit ist sie völlig auf die Staatsfinanzen fixiert. Doch damit zäumt sie das Pferd vom Schwanz auf. Am Anfang stehen die Bedürfnisse und die zeitliche Limite des 24-Stunden-Tages. Das führt zum Beispiel zur Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Normen der 40-Stunden-Woche und der Vollbeschäftigung einfach nicht mehr zur heutigen hohen Produktivität passen. So viel, wie man mit einer 40-Stunden-Woche herstellen kann, könnte man auch dann nicht konsumieren, wenn die natürlichen Ressourcen nicht auch beschränkt wären. Doch wer Ökonomie nur in Geld denkt, kommt gar nicht auf die Idee, über solche elementare Zusammenhänge nachzudenken.

Natürlich kann man Geld nicht aus der Ökonomie ausklammern. Doch auch hier geht es erst einmal um eine Rückkehr zu den Wurzeln. Geldströme widerspiegeln Warenströme, und sie müssen in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingebettet werden. Über Staatsdefizite zu jammern, ohne die entsprechenden Überschüsse bei den Unternehmen oder Privathaushalten ins Kalkül einzubeziehen, ist dilettantisch oder ideologisch. Ein Vorwurf, der leider für 95 Prozent der Ökonomen zutrifft.
Wenn dann alle realen Probleme gelöst sind, dürfen sich die Ökonomen gerne wieder darüber streiten, mit welchem mathematischen Modell man diese Zusammenhänge am besten in eine Formel giessen kann.

Quellen

Thomas Straubhaar im Interview mit der Financial Times Deutschland: «Schluss mit dem Imperialismus der Ökonomen»

Jeffrey Sachs in der Financial Times: «Move americas economy out of its time warp»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12

Nächster Artikel