Neues Leben für ein altes Modell

Die Basler Regierung will Genossenschaften wieder fördern. Etliche kämpfen mit alten Strukturen.

Die Türen der ­Politik sind nun offen, einige ­Genossenschaften stehen vor einer grossen Herausforderung: Sie müssen jetzt ihre Strukturen erneuern. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Basler Regierung will Genossenschaften wieder fördern. Etliche kämpfen mit alten Strukturen.

Die rotbraune Häuserzeile ­erinnert an monotone Arbeiterquartiere alter englischer Industriestädte. In der Gleichförmigkeit der Bernoulli-Siedlung «Im langen Loh» kommt ein zentraler Gedanke des genossenschaftlichen Wohnens zum Ausdruck: Alle sind gleichgestellt.

Fast alle zumindest. Anita Wernli ist ein bisschen mächtiger. Seit zehn Jahren ist sie Präsidentin der Siedlung mit 42 Mehrfamilien- und 61 Reiheneinfamilienhäusern im Gotthelfquartier. Ihr halbes Leben hat sie schon in der knapp 100-jährigen Überbauung verbracht. Am Anfang lebte sie in einer Wohnung, später in einem Häuschen, seit Kurzem wieder für 980 Franken in einer 3-Zimmer-Wohnung.

Als «sozial denkender Mensch» ­zögerte sie nicht, als sie gefragt wurde, ob sie Präsidentin der Genossenschaft mit 400 Bewohnern werden wolle. «Ich schätze es, in dieser Gemeinschaft zu leben – und wenn ich der ­Genossenschaft etwas zurückgeben kann, dann mache ich das gerne.»

20 Interessenten pro Woche

Das Amt als Präsidentin sei spannend, aber auch anstrengend, sagt die 59-Jährige. Anstrengend, weil nach der abgeschlossenen Sanierung der Einfamilienhäuser demnächst die 125 Wohnungen renoviert werden sollen. Einfach loslegen kann Wernli dabei nicht. Von den Genossenschaftern hat sie erst grünes Licht für die Abklärungen der Sanierung eines Musterhauses bekommen.

Im Herbst muss sie den definitiven Kredit beantragen – und sobald die Sanierung des Musterhauses abgeschlossen ist, einen weiteren Kredit für die restlichen 41 Mehrfamilienhäuser absegnen lassen. Ein Bewilligungsmarathon. Wernli ist dennoch zuversichtlich, dass es keinen Widerstand geben wird. Die Sanierung sei schliesslich nötig, um auch den nächsten Generationen günstige Wohnungen anbieten zu können.

Günstig ist das Wohnen «Im langen Loh» allemal. Die Mietzinse bewegen sich zwischen 700 Franken (2-Zimmer-Wohnung) bis 2000 Franken (Haus mit 7 Zimmern), die Anteilscheine kosten zwischen 2000 und 4000 Franken. Kein Wunder, ist die Genossenschaft äusserst beliebt. Erst recht in einer Zeit, in der die Leerwohnungsquote in Basel-Stadt auf 0,3 Prozent gesunken ist und die Mieten nach oben schiessen. Bis zu 20 Anfragen bekommt Wernli pro Woche. Doch beglücken kann sie niemanden, die Warteliste ist lang, die Fluktation gering. Wer einmal in der Idylle landet, geht nicht so schnell wieder weg.

Häuschen muss wieder freigegeben werden

Die Mutter dreier Kinder stellte denn auch eine Überalterung in der Siedlung fest – und handelte. Seit 2006 gilt für Einfamilienhäuser eine neue Regel. Demnach müssen Paare, deren Kinder ausgeflogen sind, nach einer Übergangsfrist von maximal fünf Jahren ihr Häuschen für eine andere Familie freigeben. Dass diese Bestimmung auch sie selbst und ihren Mann traf, und sie 2012 nach 20 Jahren ihr Haus räumen mussten, nahm sie in Kauf.

Überhaupt haben Familien hohe Priorität bei Anita Wernli. So will sie mit der Sanierung einige Wohnungen vergrössern lassen. «Wir haben nur sieben 4-Zimmer-Wohnungen. Der Rest sind 2- und 3-Zimmer-Wohnungen. Was beim Bau der Siedlung noch dem Standard entsprach, genügt den heutigen Ansprüchen nicht mehr.»

Die Genossenschaft «Im langen Loh» wurde zwischen 1920 und 1923 vom ­Architekten Hans Bernoulli erstellt. Damals erlebte der Bau von ­Genossenschaftswohnungen seine Blütezeit. Heute gibt es in Basel rund 10 000 solche Genossenschaftswohnungen. Das entspricht einem Anteil von etwa zehn Prozent am gesamten Wohnungsbestand.

Hochkonjunktur im roten Basel

Das erste genossenschaftliche Bauprojekt entstand 1913 an der Buchen-/­Eichenstrasse in der Nähe des Merian-Iselin-Spitals. Vor allem das rote Basel hatte in den Jahren 1942 bis 1950 den gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau stark vorangetrieben und gefördert. ­Allein von 1943 bis 1950 wurden über 70 neue Genossenschaften gegründet, die rund 5500 Woh­nungen ­realisierten. Nach dieser Zeit kam die genossenschaftliche Bautätigkeit gemäss einer Publikation der «Wohnbaugenossenschaften Nordwest­schweiz» fast vollständig zum Erliegen. Ein eidgenössisches Referendum beendete die Fördermassnahmen des Bundes und damit zugleich auch die kantonalen ­Anschlusshilfen.

In der Stadt wurden von 1952 bis 1990 nur noch vereinzelte Projekte realisiert. Darunter die Hochhäuser Rankhof, die Überbauung Burgfelderhof und die Genossenschaftswohnungen am St. Johanns-Parkweg. Basel weist heute nach Zürich und Biel den grössten Anteil an Genossenschaftswohnungen auf – obwohl in den letzten 20 Jahren kaum mehr neue dazu kamen: 1994 entstand noch eine Siedlung am Luzernerring, Ende 2011 ein Neubau im Hinterhof an der Hegenheimerstrasse 137.

Mit dem Wohnraumfördergesetz, das am 22. September als Gegenvorschlag der Initiative «Bezahlbares und sicherer Wohnen für alle» des Mieterverbandes zur Abstimmung gelangt, will die Regierung gemeinnützige Wohnbauträger wieder stärker in den Fokus rücken. Künftig sollen diese unter anderem vom Kanton ein Darlehen für die Entwicklung von Wohnbauprojekten erhalten und mit Bürgschaften unterstützt werden können. Die Genossenschaften scheinen für die Regierung das Allheilmittel zu sein, nach dem gescheiterten Entwicklungsprojekt Logis Bâle, das ein Jahrzehnt lang die Interessen der Investoren und Gutverdienenden bediente.

Nur mit Schweizer Pass

Andreas Herbster freut sich als ­Geschäftsleiter der Bau- und Verwaltungsgenossenschaft Wohnstadt, die in der Region rund 450 Genossenschaftswohnungen besitzt, wieder mehr Beachtung von der Regierung zu erhalten. «Die Genossenschaften wurden von der Politik vernachlässigt. Das Wohnraumfördergesetz ist wichtig für uns, weil es wieder Dinge ermöglicht, die zuvor jahrzehntelang funktioniert haben – beispielsweise Bürgschaften des Kantons für gemeinsame Bauträger.»

Laut Herbster stehen die Genossenschaften vor einer grossen Herausforderung. In der Vergangenheit hätten sich nur wenige erneuert, vielmehr habe man sich mit der Bestandespflege beschäftigt. «Ein Milizvorstand, der etwas verändern will, braucht gute Argumente und einen langen Schnauf. Nicht wenige Genossenschaften sind deshalb in den alten Zeiten stehen geblieben. Sie drehen sich im eigenen Saft, weil sie in der Vergangenheit weder gefördert noch gefordert wurden.» Die Türen der ­Politik stünden nun offen, einige ­Genossenschaften hätten aber veraltete Strukturen, sagt Herbster.

So gibt es in Basel etliche überalterte Siedlungen – oder solche, bei ­denen ein Schweizer Bürgerrecht Voraussetzung ist, um überhaupt Mieter werden zu können. Anita Wernli kennt einige solche Genossenschaften und kann darüber nur den Kopf schütteln. Immer wieder würden sich Ausländer bei ihr bewerben, die zuvor von anderen Siedlungen abgelehnt worden seien, weil sie keinen Schweizer Pass haben. Für Wernli sind Genossenschaften das Zukunftsmodell schlechthin, aber: «Wenn Genossenschaften bestehen bleiben und sich weiterentwickeln möchten, müssen sie unbedingt professioneller werden.» Fusionen von kleineren Genossenschaften könnten dabei hilfreich sein.

Weniger Engagement heute

Wie lange sie den Job als Präsidentin noch machen will, weiss sie nicht. Manchmal finde sie es schon mühsam, dass manche Genossenschafter dazu neigen, den Polizisten zu spielen. «Solche Personen sind in Genossenschaften öfter anzutreffen als an anderen Orten. Man ist ja schliesslich Miteigentümer, fühlt sich verantwortlich», sagt sie.

Oder auch nicht. Hin und wieder wünscht sich Wernli, die Mitglieder würden sich mehr engagieren. «Früher war das Zusammengehörigkeitsgefühl intensiver, man hat mehr für die Genossenschaft gedacht. Heute muss ich die Leute regelrecht darum bitten, eine Arbeit zu erledigen.» Aber das sei ein allgemeines Gesellschaftsproblem. Heute sei es den Leuten wichtiger, günstig wohnen zu können als sich einzusetzen. Solche Mieter bezeichnet Anita Wernli nicht als Genossenschafter, sondern als «Genies­senschafter».

Ein solcher «Geniessenschafter» könnte zum Beispiel der Schauspieler Hans-Jürg Müller sein, der seit zwölf Jahren in einer Genossenschaftswohnung an der Mülhauserstrasse im St. Johann wohnt und für eine 2-Zimmer-Wohnung 640 Franken zahlt. Der 56-Jährige war noch nie an einer ­Versammlung. «Ich bin schon der ­passive Genossenschafter», sagt er. Seine Liegenschaft sei im Gegensatz zu anderen Häusern aber auch nicht so straff organisiert, man lebe ziemlich unkompliziert miteinander und putze das Treppenhaus, wann immer man Lust ­darauf habe. «Die Wohn­situation könnte für mich gar nicht besser sein.»

Müller hat sich aber fest vorgenommen, in naher Zukunft eine Versammlung zu besuchen. Nur schon, um herauszufinden, wie der Apéro schmeckt. Er habe nämlich gehört, dass dieser ausgezeichnet sei.

Abstimmung über das Wohnen

Am 22. September kommt die Initiative des Basler Mieterverbandes «Bezahlbares und sicheres Wohnen für alle» zur Abstimmung. Das Volks­begehren verlangt unter anderem die Schaffung von Sonder­zonen für günstigen Wohnraum. Mit einem Gegenvorschlag, dem sogenannten Wohnraumfördergesetz, wollen die Basler Regierung und der Grosse Rat der ­Initiative entgegentreten. Der ­Gegen­vorschlag sieht eine Offensive bei der ­Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus vor. Künftig können Genossenschaften vom Kanton ein Darlehen für die Entwicklung von Wohnbauprojekten erhalten und mit Bürgschaften ­unterstützt werden. Der Kanton soll zudem Areale ­erwerben und diese im Baurecht den Genossenschaften überlassen können. Mit dem Wohnraumfördergesetz soll die Sozialhilfe zudem die Möglichkeit erhalten, benachteiligten Personen günstige Wohnungen zur Verfügung zu stellen – und auch die Investoren und Haus­eigentümer würden mit dem Gesetz auf ihre ­Kosten kommen: Für sie soll das ­Abbruchgesetz gelockert werden. Demnach soll der Abbruch von ­bestehenden Wohnungen dann ­bewilligt werden, wenn mindestens wieder gleich viel Wohnraum entsteht – ein äusserst umstrittenes Vorhaben. So warnt der Mieter­verband davor, dass damit günstige Wohnungen verloren gehen würden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 16.08.13

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