Nichts wie weg aus Kosovo: Die Mittelschicht verlässt den Balkanstaat
Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit versuchen Zehntausende, aus dem Kosovo zu flüchten. Armut und Perspektivlosigkeit treiben die Menschen aus dem Land. Ein Besuch in Pristina.
Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit versuchen Zehntausende, aus dem Kosovo zu flüchten. Armut und Perspektivlosigkeit treiben die Menschen aus dem Land. Ein Besuch in Pristina.
Die Autofahrt vom kosovarischen Parlament zum Busbahnhof in Pristina dauert weniger als zehn Minuten. Der Weg führt die George-Bush-Strasse entlang, dann biegt man in den Bill-Clinton-Boulevard ein. Zum Dank für die Hilfe im Kosovokrieg wurde dem US-Präsidenten eine Statue errichtet. Clinton grüsst die Kosovaren mit erhobener Hand und einem breiten Lächeln, so, als würde er sie dazu einladen, Teil der westlichen Wohlstandsgesellschaft zu werden.
Der Unabhängigkeitskrieg gegen das Regime von Slobodan Milosevic liegt nun 15 Jahre zurück. Seit sieben Jahren ist Kosovo unabhängig. Doch die meisten Menschen glauben nicht mehr an das Versprechen, das Clinton ihnen gab.
Vom Busbahnhof in Pristina brechen derzeit Tausende Kosovaren nach Serbien auf. Drei junge Männer warten auf ihren Bus und erklären: «Wir wollen nach Italien, Deutschland oder in die Niederlande. Hauptsache weg.» Von Serbien aus wollen sie über die Grenze nach Ungarn gelangen, in die EU. Die ungarische Botschaft in Pristina schätzt, dass sich derzeit bis zu 60’000 Kosovo-Albaner in Ungarn aufhalten.
Kosovo ist nicht nur das jüngste Land Europas, sondern auch das Land mit der jüngsten Bevölkerung in Europa. Trotz des anhaltenden Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre fehlt es an Arbeitsplätzen. Die Jugend sieht keine Chancen – auch, weil Jobs nach Parteibuch und Kontakten vergeben werden und nicht nach Qualifikation.
Laut einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung unterstützen 88 Prozent der jungen Kosovaren im Alter zwischen 16 und 27 Jahren die EU-Integration ihres Landes, deutlich mehr als in allen anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Viele wollen nicht warten, bis die Situation im Kosovo besser wird, sondern gleich in die EU ausreisen. 55 Prozent der jungen Kosovaren gaben 2012 an, dass sie planen zu emigrieren. Inzwischen dürften es deutlich mehr sein. Die Jugend hat den Glauben an das eigene Land aufgegeben.
Nach den Parlamentswahlen im vergangenen Juni herrschte im Kosovo ein halbes Jahr lang politischer Stillstand, bis die neue Regierung schliesslich im Dezember ihre Arbeit aufnahm. Sechs Wochen später begannen die Proteste. Die Jugend kommentierte die Regierungsbildung auf zwei Arten: Die einen warfen Steine gegen das Parlament, die anderen verlassen das Land.
Die kosovarische Präsidentin Atifete Jahjaga besuchte kurz nach dem Beginn des Exodus eine Schule in Vushtria, etwa 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt Pristina. In den vergangenen Wochen verliessen allein 440 Schüler das Land. «Weggehen ist keine Lösung», sagte Jahjaga und bat die Menschen zu bleiben und an der Situation im Land zu arbeiten.
«Weggehen ist keine Lösung»: Präsidentin Atifete Jahjaga kann nur an die Menschen appelieren. (Bild: HAZIR REKA)
Wenn plötzlich nicht mal serbische Pässe mehr Tabu sind
Noch eine halbe Autostunde in Richtung Norden befindet sich die Stadt Mitrovica, die entlang des Flusses Ibar geteilt wurde. Im Norden die Serben, im Süden die Albaner. Die Brücke über die Ibar ist zum Symbol des Hasses zwischen Serben und Albanern geworden. Italienische KFOR-Soldaten sind dort bis zum heutigen Tag stationiert, um für Frieden zu sorgen. Hier liegen alle Probleme des Landes nebeneinander: Arbeitslosigkeit, Armut, Industriebrachen, extremer Nationalismus und ein ethnisch geteiltes Land (lesenswert dazu auch die Reportage: In den Minen von Trepca lebt die Hoffnung auf eine Zukunft im Kosovo).
Eine Studentin im Süden Mitrovicas hat genug von der Situation vor Ort: «Ich mache meine Abschlussprüfung in Psychologie und dann ziehe ich nach München. Mein Mann ist schon dort.» Ein Visum für Deutschland hat sie nicht, weswegen sie auch nicht namentlich genannt werden will.
Kosovaren können nicht in die EU und viele Staaten auf der Welt reisen, ohne sich vorher um ein Visum zu kümmern. Viele Staaten haben Kosovo bislang nicht anerkannt. Auch Akademiker haben es nicht leicht, ein Arbeitsvisum für die EU zu bekommen. Serbien, Mazedonien, Montenegro und Albanien – danach endet die Reisefreiheit der meisten Kosovaren. Laut dem serbischen Innenministerium liegen derzeit 60’000 Passanträge aus dem Kosovo vor.
Weil Serbien das Kosovo weiterhin als sein Staatsgebiet betrachtet, können Kosovo-Albaner einen serbischen Pass beantragen, mit dem sie legal in die EU einreisen können. Die kosovarische Journalistin Una Hajdari kommentiert dieses Phänomen mit den Worten: «Wenn Kosovo-Albaner sich sieben Jahre nach der Unabhängigkeit wieder serbische Pässe holen, um hier raus zu kommen, dann gibt es nichts, was sie hier noch halten kann.»