Noch ein Sonderfall – die Briten wollen Extrawürste von der EU

Der EU-Gipfel zum Brexit endete mit einem fragwürdigen Kompromiss. Und doch zeigten die Staatsführer trotz erheblicher Differenzen eine enorme Verständigungsbereitschaft.

British Prime Minister David Cameron and German Federal Chancellor Angela Merkel pictured during the family picture moment on the first day of an EU summit meeting at European Council headquarters in Brussels, Belgium on 18.02.2016 by Wiktor Dabkowski (KEYSTONE/DPA/Wiktor Dabkowski)

(Bild: WIKTOR DABKOWSKI)

Der EU-Gipfel zum Brexit endete mit einem fragwürdigen Kompromiss. Und doch zeigten die Staatsführer trotz erheblicher Differenzen eine enorme Verständigungsbereitschaft.

Vergangene Woche hat Europa wieder einmal einen historischen EU-Gipfel erlebt. Was mit «alles oder nichts» angekündigt worden war, ist einmal mehr in einer Kompromisslösung aufgegangen. Das ist bemerkenswert und sollte nicht kleingeredet werden.

Kenner der Schweizer Geschichte könnten sich an die Treffen der alten Tagsatzung erinnert fühlen. Doch im Unterschied zu den EU-Gipfeln konnten sich die Kantonsgesandten gegen Ende des 18. Jahrhunderts bei aufziehender Gefahr nicht zusammenfinden, sodass die alte Eidgenossenschaft darüber unterging.

Kommentatoren hatten vor dem Gipfel des vergangenen Freitags darauf hingewiesen, dass die Union noch nie so nahe am Abgrund gestanden sei. Dies wegen der Kumulation kaum bewältigbarer Probleme: wegen des drohenden Austritts Grossbritanniens, wegen der Flüchtlingskrise, wegen der Euro-Krise.

Jetzt stand allerdings der Brexit, also der Austritt der Briten aus der EU, im Vordergrund. Die weiterhin auf Europa zuströmenden Flüchtlinge gerieten in den Hintergrund. Und vom Euro ist zurzeit überhaupt nicht mehr die Rede. So wenig wie vom guten Funktionieren in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Lebensmittelüberwachung oder im Kampf gegen die Steuerschlupflöcher der Multis.

In der Brexit-Abstimmung wird es weniger um die Beurteilung von Details gehen als um die Gesamthaltung – und um Angst.

Der britische Regierungschef David Cameron gibt vor, vom fernen Brüssel als Sieger nach Hause gekommen zu sein. Jetzt kann der Countdown zum 23. Juni beginnen. Es bleiben noch 120 Tage für die Diskussion, ob das United Kingdom Mitglied der EU bleiben soll oder nicht. Die Debatte dreht sich um die Frage, ob Cameron für sein Land, das so gerne  (wie der «Sonderfall» Schweiz) ein «Special Case» ist, genügend Sonderregelungen herausgeholt hat, und, wenn nein, ob ein Verbleib in EU für Britannien doch vorteilhafter ist als ein Exit.

Bei den Sonderregelungen geht es um vier Fragen:

  • Kann sich das Land vom Prozess der «immer engeren Union» verabschieden?
  • Lassen sich die nationalen Parlamente zu Bollwerken gegen Brüssel machen?
  • Können die Briten in der Euro-Gruppe, der sie nicht angehören, wegen der Interessen der «City» mitreden?
  • In welchem Masse kann das Land in der Zuwanderung den Zugang zu Sozialleistungen einschränken?

Über der Debatte um diese Punkte könnte der Blick auf das Ganze abhanden kommen, das heisst auf den grossen Rest der Gemeinschaftspolitik, von der auch die Briten tagtäglich profitieren, ohne es zu merken. In der Brexit-Abstimmung wird es weniger um die Beurteilung von Details gehen als um die Gesamthaltung – und um Angst. Angst auf beiden Seiten: einerseits vor zu starker Fremdbestimmung, andererseits vor dem unsicheren Alleinsein.

Schottische Nationalisten könnten versucht sein, für einen gesamtbritischen Austritt aus der EU zu stimmen.

Die Angst vor dem ohnehin, also auch im Falle eines Brexit, weiter fortschreitenden «Souveränitätsverlusts» könnte, das kennen wir auch aus der Schweiz, grösser sein als die Angst vor der Isolation. Entscheidend wird, wiederum wie in der Schweiz, das Engagement der britischen Wirtschaft, insbesondere des Finanzplatzes, der keinen Brexit will.

Brexit? Was die Briten von der EU wollen und was das mit der Schweiz zu tun hat, finden Sie hier.

Die Austrittsbefürworter könnten, was nicht ernst genug genommen werden kann, mit ihrem England zusätzlich allein sein, weil Schottland mit besten Erfolgsaussichten ein zweites Referendum UK-Exit fordern wird, um dann selber wieder EU-Mitglied zu werden. Wer das in Schottland will, könnte versucht sein, gerade deswegen für einen gesamtbritischen Austritt zu stimmen.

Die ausgehandelten Details und weiter bestehenden Einzelregelungen werden da keine Rolle spielen. Wirklich entscheidend ist die allgemeine Grundeinstellung: pro oder contra Europa. Gründe sowohl für als auch gegen das eine oder andere werden sich schon finden lassen. Und natürlich sagen diejenigen, die gegen die EU-Mitgliedschaft argumentieren, dass sie überhaupt nicht gegen Europa und vielleicht sogar die besseren Europäer sind.

Bei Volksabstimmungen haben die entscheidenden Details kein Gewicht – den Ausschlag geben die allgemeinen Einstellungen.

Das alles kennen wir aus unseren Volksabstimmungen – bezüglich Europa, aber auch bezüglich unseren «Fremden»-Initiativen: Da haben die entscheidenden Details kein Gewicht, auch wenn über sie mit unterschiedlichen Auslegungen heftig gestritten wird. Den Ausschlag geben die allgemeinen Einstellungen.

Ein Kommentator bemerkte noch vor dem EU-Gipfel, dass sich in Brüssel lauter Schlafwandler treffen würden, die wie die Staatsmänner und Diplomaten von 1914 in den Abgrund taumeln. Das Bild aus Christopher Clarks Historien-Bestseller «The Sleepwalkers» war schon vor anderthalb Jahren zur Deutung unserer aktuellen Krisenverhältnisse verwendet worden. Damals ging es um die Ukraine und die drohende Ausweitung des Kriegs, jetzt geht es um die Gefahr, dass die EU auseinanderbrechen könnte.

Der EU-Gipfel hat aber das Gegenteil gezeigt, nämlich eine enorme Verständigungsbereitschaft trotz erheblicher Differenzen. Allerdings mit einem fragwürdigen Kompromiss, weil dieser zugleich zu viel und zu wenig konzedierte. Zu viel, weil andere EU-Mitglieder die gleichen Sonderregelungen ebenfalls verlangen könnten und weil man das auch von Grossbritannien zu Beginn seiner Mitgliedschaft mitunterschriebene Prinzip der «immer engeren Union» nicht aufgeben sollte. Und zu wenig, weil diese Preisgaben die Gegner auf der britischen Insel nicht umstimmen werden.

David Cameron hat mit dem idealtypischen Schlafwandler eines gemeinsam: Er ist ein Gratwanderer.

Waren da Schlafwandler unterwegs? Der Vergleich hat etwas Reizvolles, gerade weil er mehrfach falsch ist. Die Vertreter der 28 EU-Mitglieder hatten in der Nacht von Donnerstag auf Freitag keine Zeit zum Schlafen, also schon darum keine Möglichkeit, mit gestreckten Armen auf dem Dachfirst zu balancieren. Und Vollmond war erst vier Tage später. Die armen Spitzenpolitiker mussten vielmehr einen 30-Stunden-Marathon hinlegen.

Es ist verlockend, sich alle diese Regierungspersonen für einmal schlafend vorzustellen, vor oder nach dem Gipfel entweder im Tiefschlaf oder im leichten Schlummer, entweder von Albträumen verfolgt sich wälzend oder im Hinblick auf einen freien Sonntag sich in süssen Träumen wiegend. François Hollande? Angela Merkel? Jean-Claude Juncker? Donald Tusk? Martin Schulz? David Cameron!

David Cameron hat mit dem idealtypischen Schlafwandler eines gemeinsam: Er ist ein Gratwanderer. Nicht auf einem Dachfirst, aber abstürzen könnte er, weil er mit der Ankündigung eines Referendums und der Forderung nach einer «grundlegenden» Reform der EU eine Gefahr entschärfen wollte, die er durch sein Vorgehen selber vergrösserte. Dies mit der durchaus verschmerzbaren Konsequenz, dass er bereits unter Umständen nach dem 23. Juni und nicht erst in vier Jahren in Pension geht.

Indem er das EU-Votum zu seiner persönlichen Sache gemacht hat, werden insbesondere auch diejenigen gegen die EU-Mitgliedschaft sein, die innerhalb der Tory-Partei Camerons Gegner sind. Dies hat Boris Johnson, Londons Bürgermeister und ein populistischer Selbstinszenierer, mit seiner Unterstützung des Brexit soeben bestätigt.

Ein ganzes Stimmvolk kann schwerlich als Schlafwandler eingestuft werden. Da bietet sich eher das Bild der Lemminge an.

Von Schlafwandlern heisst es, dass sie die Realität nicht sähen. Es geht indessen immer um Realitäten, es fragt sich einfach, welche man im Auge hat. Auch persönliche Interessen sind eine Realität, die weit oben auf der Prioritätenliste steht.

Cameron hat, wie er glaubwürdig beteuern kann, für einmal nicht die nächste Wahlen vor Augen, denn 2020 will er nicht mehr kandidieren. Er hat sich vielmehr zum Ziel genommen, in die britische Geschichte einzugehen als einer, der sein Land in doppelter Weise gerettet hat: vor der weiteren Integration und zugleich vor dem Austritt. Bei seinem Herausforderer Johnson, dem exzentrischen «BoJo», geht es offensichtlich darum, dem jetzigen Primeminister eine Niederlage beizufügen, um ihn dann beerben zu können. Soll Europas Schicksal von solchen Spielchen abhängen?

Das Bild des Schlafwandlers dient dazu, das Verhalten von Einzelakteuren kritisch zu beurteilen. Ein ganzes Stimmvolk kann schwerlich so eingestuft werden. Da bietet sich eher das Bild der getriebenen Herde an, der Lemminge, die sich blind in den Abgrund stürzen. Im Moment ist es schwer zu sagen, wie der Entscheid vom 23. Juni ausgehen wird. Wer ein knappes Resultat in der einen oder anderen Richtung voraussagt, gibt die zur Zeit wahrscheinlichste Prognose ab. Zutiefst irritierend ist aber, dass das Schicksal eines Landes sowie im Hinblick auf die Konsequenzen für die EU insgesamt eines Kontinents von der unverhältnismässig kleinen Differenz eines Bürgervotums abhängen soll.

Eine Aussage kann man jedoch schon wagen: Siegen wird nicht die bessere, sondern die stärkere Überzeugung. Es bleibt aber die Hoffnung, dass die stärkere auch die bessere sein wird. 

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