«Noch ist Polen nicht verloren»

Die regierende PiS baut Polen in einen autoritären Staat um und verletzt zentrale Werte. Das darf die EU ihrem Mitglied nicht durchgehen lassen. Aber auch die Polen selbst stehen in der Pflicht.

Ice swimmers warm up before taking a bath in the icy water of the Zegrzynski lake in Nieporet near Warsaw, Poland, Wednesday, Jan. 6, 2016, with the temperature minus 6 degrees Celsius (21.2 Fahrenheit). (AP Photo/Alik Keplicz)

(Bild: Alik Keplicz)

Die regierende PiS baut Polen in einen autoritären Staat um und verletzt zentrale Werte. Das darf die EU ihrem Mitglied nicht durchgehen lassen. Aber auch die Polen selbst stehen in der Pflicht.

Die Entwicklung erfüllt uns mit Sorge. Die im November an die Macht gekommene nationalkonservative Partei PiS mit dem irreführenden Namen «Recht und Gerechtigkeit» ist daran, Polen im Eiltempo in einen autoritären Staat umzubauen. Bereits in den ersten zwei Monaten hat sie das Verfassungsgericht lahmgelegt und so die Gewaltenteilung unterminiert. Nun werden die staatlichen Medien an die Kandare genommen und die privaten mit Verstaatlichung bedroht.

Die Mentalität, aus der heraus dies alles geschieht, ist besorgniserregend. Seit ihrer Machtübernahme will die PiS die Verhältnisse derart umkrempeln, dass es – obwohl in Demokratien üblich – kein Auswechseln von Parteihoheiten mehr geben und die vorangetriebene Entwicklung auch nicht mehr in eine andere Richtung gelenkt werden kann.

Parteichef Jaroslaw Kaczynski war mit der PiS 2005 bis 2007 schon einmal an der Macht. Er musste diese aber an die liberalkonservative Bürgerplattform (PO) abtreten, die dann acht Jahre lang regierte. Jetzt vergeudet die rechtsnationalistische Regierung keine Zeit, um möglichst viel in ihrem Sinn und, wie sie sich erhofft, für immer zu regeln. Die aktuellen Eingriffe in die Staatsordnung haben vor allem die Funktion, eine nochmalige Abwahl zu verhindern. Die PiS baut ihre Machtposition aus, damit sie nicht wieder zu Fall gebracht werden kann.

Brot für die Armen

Ohne Brosamen an Bedürftige geht das nicht: Senkung des Rentenalters, Anhebung des Kindergelds, Verteilung von Gratismedikamenten an Alte und anderes mehr. Alles begleitet von Fortschrittsparolen. Bezahlen soll das «internationale Kapital», das heisst die zusätzlich besteuerten Handelsketten und Banken.

In dieser Politik nehmen durchaus real verstandene «Krankheitsvorstellungen» einen wichtigen Platz ein. Sanieren heisst da politisch heilen, und das meint auch «säubern». Ministerpräsidentin Beata Szydlo: «Bis zum Sommer wird die Regierung die Sanierung des Staates und seiner Institutionen abgeschlossen haben.» Die rechtsnationale Kur wird Polen allerdings nur kränker machen.

Dem hemmungslosen Durchsetzungswillen entsprechend soll eine neue Ära eingeläutet werden, eine Zeit, die sich im Kalender abbilden lässt: Nach der 2. Republik (1918–1939) und der 3. Republik (1989–2015) jetzt eben eine neue, ausdrücklich eine 4. Republik. Es gab schon in der 2. Republik eine Phase, die der jetzigen nicht unähnlich war, mit der 1926 staatsstreichähnlichen Errichtung einer «Vernunftdiktatur» unter Marschall Josef Pilsudski, der wie Kaczynski nicht Ministerpräsident werden wollte und dennoch die Geschicke des Landes leitete.

Feinde überall

Warum ist so etwas heute möglich? Man sagt den Polen doch nach, ein freiheitsliebendes Volk zu sein. Das mag als allgemeine Einschätzung stimmen. Zumal wenn man sich an wichtige Momente in der Geschichte erinnert, insbesondere an die Aufstände von 1830, 1848 und 1863 gegen die Russen sowie an den Versuch der Untergrundarmee 1944, das Land von der NS-Okkupation zu befreien.

Erinnert sei auch an die berühmte Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc mit ihren ersten Danziger Streiks von 1980 und an die Opposition der Kirche gegen das kommunistische Regime. Diese wichtigen Bewegungen lebten zu einem Teil vom die Gesellschaft durchdringenden polnischen Nationalismus, der damals eine Oppositionskraft war und jetzt zu einer Repressionskraft geworden ist.

Dieser Nationalismus kultiviert, wie jeder Nationalismus, Gegnerschaft im Inneren wie im Ausland. Beliebte Adressaten sind heute die Intellektuellen und Künstler, die Liberalen und Linken, die Medienschaffenden, Juden, Flüchtlinge und die Ausländer schlechthin. Und gemäss PiS-Aussenminister Witold Waszczykowski auch Velofahrer, Veganer, Umweltschützer und Areligiöse.

Die EU muss reagieren

Im Osten ist – historisch sehr verständlich – Russland der Feind. Weit weniger verständlich, gibt es neuerdings auch im Westen Gegner: die Europäische Union und Berlin mit seiner angeblichen Herrschsucht. Die gegen die EU hochgefahrene Gegnerschaft führte schon dazu, dass die zuvor aus den wöchentlichen Pressekonferenzen der Regierung verbannte EU-Fahne auf den Strassen verbrannt und die EU – im Lande von Auschwitz – als Konzentrationslager beschimpft wurde.

Die EU kommt nicht darum herum, auf diese jüngste Entwicklung warnend zu reagieren. Damit wird sie sich bei den Rechtsnationalen freilich noch unbeliebter machen. Bekanntlich prüft die EU bei der Aufnahme von Neumitgliedern, ob sie die demokratisch-rechtsstaatlichen Elementarvoraussetzungen erfüllen. Es ist aber nicht im Einzelnen geregelt, wie man mit einem aufgenommenen Mitglied umgeht, wenn es von diesen Standards wieder abweichen sollte.

Erst die Erfahrungen mit der ebenfalls die Grundvoraussetzungen verletzenden Politik des ungarischen Regierungschefs Victor Orban führten dazu, dass die EU-Kommission im März 2014 «Rahmenvorschriften zum Schutze der Rechtsstaatlichkeit» erliess. So kann nun im Falle von «schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen» der vertraglich verankerten Werte durch ein Gemeinschaftsmitglied ein dreistufiges Verfahren in Gang gesetzt werden. Darüber, ob dieses im Fall von Polen zum Zug kommt, soll bereits am Mittwoch, 13. Januar, in Brüssel eine erste Debatte geführt werden.

Auch eine Klage wäre denkbar

Die Kommission muss gemäss diesem Verfahren zunächst den Dialog suchen und das beanstandete Mitglied zu einer Stellungnahme auffordern. In einem zweiten Schritt ergeht eine «Rechtsstaatlichkeitsempfehlung» in Kombination mit der Aufforderung, binnen einer gesetzten Frist Stellung zu nehmen.

In einem dritten Schritt kann die Kommission einen Mechanismus nach Artikel 7 des EU-Vertrags einleiten, in dem vor allem eine Aussetzung des Stimmrechts vorgesehen ist. Das erfordert allerdings eine Mehrheit von vier Fünfteln des Ministerrats, die Zustimmung des Europäischen Parlaments und sogar eine einstimmige Feststellung der EU-Regierungschefs. Polen könnte da aber mit dem Veto Ungarns rechnen.

Dieses Prozedere ist noch nie angewendet worden – es dauert lang und die Anforderungen sind hoch. Eine weitere Gegenmassnahme wäre eine ebenfalls langfädige Klage der Kommission beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Angedeutet wird sodann die Möglichkeit, die polnische Regierung mit dem Hinweis auf die ihr zuströmenden EU-Gelder zu zähmen.

Präzedenzfall Österreich

Es rächt sich nun, dass die EU nicht schon früher, gerade im Falle Ungarns, entschiedener eingeschritten ist. Kaczynski, der sich Orbans Ungarn zum Vorbild genommen hat, kann darauf spekulieren, dass sie auch in seinem Fall nur halbherzig reagieren wird. Diese Zaghaftigkeit mag sich aus den wenig erfreulichen Reaktionen erklären, welche die «Sanktionen» auslösten, mit denen die EU im Februar 2000 auf den Einbezug des Rechtspopulisten Jörg Haider in Österreichs Regierungskabinett Schüssel reagierte. Die Sanktionen bestanden bloss darin, dass die anderen 14 Mitglieder ihre Beziehungen zu Österreich auf Regierungsebene reduzierten (also nicht auf supranationaler EU-Ebene).

Selbst dieser zahme Reflex, der später eigentlich auch gegenüber Berlusconi fällig gewesen wäre, wurde von EU-Skeptikern, auch in der Schweiz, als Beleg für den supranationalen Herrschaftsanspruch der EU denunziert.

Die EU muss Polen vor sich selber schützen – und damit auch die EU. Es wird zu ihren Hauptaufgaben gehören, den Rechtsnationalismus europaweit einzudämmen. Die zentrale Feststellung in der Begründung der Friedenspreisverleihung von 2012 an die EU lautete, dass sie zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen habe. Dies bezog sich auf die vergangenen sechs Jahrzehnte und auf zwischenstaatlichen Beziehungen. Es müsste aber auch für die kommenden Jahre und bezogen auf die innerstaatlichen Verhältnisse aller Mitglieder zutreffen.

Die Polen müssen sich selber helfen

Die «Rettung» kann aber nicht nur von aussen kommen, sie muss in erster Linie von der innerstaatlichen polnischen Opposition geleistet werden. Ihr ist es immerhin schon gelungen, Zehntausende für eindrückliche Demonstrationen zu mobilisieren. Umfragen zeigen, dass einige Bürger und Bürgerinnen ihr Votum für die PiS bereits bereuen.

Die Opposition kann sich an der geflügelten Formel orientieren: «Noch ist Polen nicht verloren!» Der mit diesem Satz beginnende Text entstand Ende des 18. Jahrhunderts und wurde 1918 zur Nationalhymne gemacht. Dieses Leitmotiv drückt zwar Hoffnung aus, seine Verwendung zeugt aber auch davon, dass die momentane Lage als desolat und beinahe desperat empfunden wird. So ist das bei den Hymnen: Ihre Losungsworte können sehr unterschiedlich genutzt werden. Auch ein Kaczynski kann diesen Spruch für sich beanspruchen. Wichtig wäre für Polen, dass die Opposition aus ihrer Zuversicht den besseren Nutzen zu ziehen versteht.

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