Die EU will Europa nicht mehr bauen, sondern umbauen. Denkbar ist neuerdings auch ein grosser Schritt in Richtung Bundesstaat, den nicht alle Mitglieder mitmachen müssten. Dafür braucht es einen günstigen Moment mehr und viel mehr guten Willen.
Am bevorstehenden 9. Mai hat die Europäische Union ihren 1. August. Anlass und Gelegenheit, einen Moment über dieses Projekt nachzudenken – ohne Verteufelung und ohne Verherrlichung. Bisher war immer davon die Rede, dass Europa gebaut werden müsse. Und bauen bedeutete stets ausbauen oder – in der Europaterminologie – Vertiefung und Erweiterung («deepening» und «enlargement»). Neuerdings wird von Umbau oder gar von Rückbau gesprochen.
Bereits im vergangenen November gestand Kommissionschef Jean-Claude Juncker ein: «Eines Tages sollten wir die europäische Architektur überdenken…». Und er dachte dabei an eine Staatengruppe, «die alle Dinge zusammen macht», und an andere Staaten, «die sich in einem Orbit ausserhalb des Zentrums positionieren».
Die Formel «eines Tages» ist aber zu locker und zu unverbindlich. Das ist verwaschener Politiker-Speak. Es gibt oder gäbe dringende Gründe, den Umbau sogleich an die Hand zu nehmen. Es ist auch gar nicht so schwer, Umbaupläne zu entwerfen und vorzuschlagen. Viel schwieriger ist es, sie umzusetzen. Im Laufe der nun über sechzigjährigen Geschichte der EU sind schon öfters Reformvorschläge auf den Tisch gelegt worden – und wieder in den Schubladen verschwunden.
Korrigieren, was falsch gelaufen ist
Ein jüngster Vorschlag versucht zu korrigieren, was in letzter Zeit falsch gelaufen ist: insbesondere die beiden halbbatzigen Beschlüsse zur Euro-Einführung ohne entsprechende Politische Union und zur Regelung der Flüchtlingsfrage (Dublin-Abkommen) ohne Festlegung des Verteilschlüssels.
«Europa ist am Scheideweg», hiess es 2001, wobei klar war, dass nur eine Vergrösserung in Frage kam.
Die Korrektur gilt aber auch einer dritten Grösse, nämlich dem gesamten, offiziell noch immer gültigen Entwicklungsprogramm zur Schaffung einer «immer engeren Vereinigung». Diese schreitet seit den 1950er-Jahren von Meilenstein zu Meilenstein voran und geht davon aus, dass zustande gekommene Teilintegrationen über «Spill over»-Effekte weitere Teilintegrationen möglich machen – Vertiefung auf Vertiefung bis zum krönenden Abschluss eines verfassten Bundesstaats.
Weitere Meilensteine wurden auch in der anderen Dimension durch die verschiedenen Erweiterungsschritte gesetzt und meistens als «historisch» bezeichnet. In der Vorbereitung der Osterweiterung um mehr als zehn Mitglieder hielt der Gipfel im niederländischen Laeken 2001 fest: «Europa ist am Scheideweg», wobei klar war, dass nur Vergrösserung infrage kam.
Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten
Die gradualistische oder evolutive Methode könnte aber an ein Ende gekommen sein. Das heisst: Jetzt könnte der Moment eingetreten sein, einen grösseren Sprung zu machen und diejenigen hinter sich zu lassen, die da nicht mitmachen wollen oder nicht mitmachen können. Dieser Meinung sind auch die Autoren einer jüngst erschienenen Schrift, die Historiker Brendan Simms und Benjamin Zeeb.
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble würde eine Entwicklung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten bekanntlich ebenfalls begrüssen. Kürzlich erklärte er wieder: «Wer mit will, okay; wer nicht will, kommt später.» Oder, wie man ergänzen kann, vielleicht auch nie.
Laut der nun vorliegenden Schrift ist es höchste Zeit, dass eine Koalition der Wollenden ein bundesstaatliches Konzept erarbeite und zur allgemeinen Abstimmung bringe. Dabei geht es vor allem um einen Ausbau der suprastaatlichen Ebene. Diese soll sich auf die nötigen Bereiche Fiskal- und Finanzpolitik sowie Sicherheitspolitik beschränken. Zum Ausgleich soll der «Rest» womöglich an die Nationalstaaten und die Regionen abgetreten werden.
Könnte der «Brexit» integrierend wirken?
Der Ire Simms und der Brite Zeeb orientieren sich an zwei grossen Vorbildern: Grossbritannien und den USA. Beide Staaten hätten in einem Moment existenzieller Bedrängnis eine Union zustande gebracht; der eine 1707 durch die Zusammenlegung von England und Schottland, der andere 1787 durch die engere Zusammenführung der 13 amerikanischen Gründungskolonien.
Es brauche eine grossen Knall. Nicht fliessende Prozesse, sondern nur Ereignisse würden so was zustande bringen. Die schweizerische Erfahrung kann das bestätigen: Dem Bundesstaat von 1848 ist mit dem kleinen Bürgerkrieg ebenfalls ein «Big Bang» vorausgegangen.
Der bevorstehende «Brexit» könnte Teil dieses Knalls sein. Die beiden Autoren sähen im Ausscheiden Grossbritanniens aus der EU kein Unglück und verweisen darauf, dass Churchill schon 1946 die «Vereinigten Staaten von Europa» ohne die Briten vorgesehen habe. Kontinentaleuropa könnte sich im Gegenteil ohne den alten, stets bremsenden Empirestaat freier entwickeln. Dennoch könne Grossbritannien einen wichtigen und nötigten Anteil zur gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik leisten.
Und wirtschaftlich? Die Schrift zitiert den ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der schon 2012 die Meinung geäussert hatte, dass sich EU und UK ohne Weiteres mit einem Freihandelsabkommen begnügen könnten.
Was muss zuerst gegeben sein – das gemeinsame Gebilde oder das entsprechende Gemeinschaftsbewusstsein?
Erstaunlich und doch wiederum nicht, dass Simms und Zeeb ganze Abschnitte der Schweiz widmen. Schmeichelnd der Satz, dass die Europäer in punkto Interessenausgleich und Pflege von gegenseitigem Respekt und Vertrauen von der Schweiz lernen könnten. Andererseits sei die Neutralität schlicht keine Option. Europa müsse seine Interessen im globalen Umfeld «effektiv» vertreten. Verlangt sei eine wesentlich stärker zentralisierte und gemeinschaftlich legitimierte politische Autorität auf dem Kontinent, stärker jedenfalls, «als sie das Schweizer Modell bieten kann».
Mehr oder weniger Europa?
Ein schwieriger Punkt wird nur kurz angesprochen: Was muss zuerst gegeben sein – das gemeinsame Gebilde (die neue Union) oder das entsprechende Gemeinschaftsbewusstsein?
Die Autoren haben recht, wenn sie meinen, dass eine europäische Zivilgesellschaft erst nach der Schaffung von Strukturen – natürlich auch mit demokratischen Mitwirkungsrechten – entstehen kann. Das war bei vielen Nationen und auch bei einigen Schweizer Kantonen so. Es gibt das treffende Bonmot aus dem 19. Jahrhundert, dass man, nachdem Italien gemacht worden sei, nun noch die Italiener machen müsse. Auch «die» Aargauer und «die» Tessiner kamen als gesellschaftliche Subeinheiten erst auf, nachdem die entsprechenden Kantone zur Verfügung standen. Analog wird es mit Europa sein.
Einmal mehr wird nicht klar, wie man von «A» nach «B» kommen kann.
Leider wird jedoch auch bei Simms und Zeeb einmal mehr nicht klar, wie man von «A» nach «B» kommen kann. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich eine Bewegung bilden und diese den gemeinsamen Sprung zustande bringen müsste. Wer aber soll eine abstimmungstaugliche Vorlage erarbeiten und dann den Abstimmungskampf führen? Gemäss dem jüngsten Vorschlag soll zuerst über einen Grundsatzentscheid abgestimmt werden – darüber, ob man mehr oder weniger Europa will. Und erst nachher soll für die neu zu schaffende Union eine Verfassung erarbeitet werden.
Ist das der richtige Weg?
So weit war man schon einmal, als Churchill in seiner Zürcher Rede von 1946 erklärte, dass die «Vereinigten Staaten von Europa» entstehen würden, wenn nur die vielen Hundert Millionen Männer und Frauen dies wollten.
Der Führung mangelt es an Willen
Simms und Zeeb sehen das ähnlich: Die nötige Entwicklung werde nur kommen, sofern man sie herbeiführen wolle. Aufs Risiko hin, als Defätist zu erscheinen, sei darauf hingewiesen, dass es ein Kader braucht, um einer solchen Bewegung die nötige Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit zu geben, und dass beim aktuellen Kader der entsprechende Wille derzeit nicht in genügendem Masse vorhanden ist.
Stellen wir lediglich auf den guten Willen ab, landen wir bei der von Baron Münchhausen geschilderten Situation, in der er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen musste. Diese Geschichte passt auch in Nebenaspekten zur aktuellen Situation. Sie führt nämlich aus, dass es für den Reiter keinen anderen Weg zum Ziel gegeben und er den Sumpf nicht habe umgehen können. Also musste er mit seinem Pferd springen, doch er oder dieses sprang zu kurz. Retten musste er sich aber selber. Stolz erklärte er darauf, mit sich auch gleich das Pferd aus dem Sumpf gezogen zu haben.
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* Brendan Simms/Benjamin Zeeb: «Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa». Verlag C.H. Beck, 2016, 140 Seiten.