Ist es der Mut der Verzweiflung? Oder politisches Harakiri? Kurz vor den französischen Präsidentschaftswahlen lanciert Nicolas Sarkozy die Reformen, die er jahrelang vermieden hatte.
Frischgekürte Staatschefs benützen die Gunst der ersten hundert Tage gerne, um schwierige Reformen in Angriff zu nehmen. Sarkozy macht es umgekehrt: Er lanciert in den letzten Wochen seines Mandats eine ganze Armada harter Wirtschaftseingriffe. So will er die Mehrwertsteuer von 19,6 Prozent um 1,6 Punkte erhöhen; zudem hebt er die 35-Stunden-Woche faktisch aus den Angeln, indem Firmen und Branchen schon im Februar die Möglichkeit erhalten sollen, die Arbeitszeit mit Lohnfragen zu koppeln.
Die Franzosen sind verblüfft über Sarkozys TV-Auftritt, bei dem er seine letzten hundert Tage lancierte. 16 Millionen Fernsehzuschauer sahen nicht wie üblich einen Tausendsassa mit brillanter Rede, sondern einen bleichen, abgekämpften Präsidenten, der die Nation auf schmerzvolle Reformen einstimmte – und dies drei Monate vor dem ersten Präsidentschaftswahlgang.
Ganz offensichtlich will sich Sarkozy den Rechtswählern – die Linke hat er längst verloren – als mutiger Reformer präsentieren. Fünf Jahre lang hatte er die 35-Stunden-Woche als «ökonomische Katastrophe» bezeichnet; und fünf Jahre lang fragten sich die Franzosen, die Sarkozy 2007 gewählt hatten, warum er die – nur noch in Frankreich geltende – Arbeitszeitverkürzung nicht rückgängig mache.
Den kalten Atem in Nacken
Jetzt schlägt Sarkozy wie in Torschlusspanik zu. Um Wirtschaftspolitik geht es ihm mitnichten. Es geht um ihn selbst. In der Vorwoche hat sein sozialistischer Rivale François Hollande vor gut 10 000 Anhängern einen fulminanten Wahlkampfauftakt hingelegt; dann doppelte er mit einem geschickt dosierten Wahlprogramm nach. Für die linke Wählerschaft kündigte Hollande die Schaffung von 150 000 Jugendjobs und 60 000 Lehrerstellen an; die Finanzmärkte beruhigte er mit genauen Zahlen über die Finanzierbarkeit. Damit erweckte der Realo-Sozialdemokrat den Eindruck eines gemäs-sigten, aber krisenfesten Programms.
Den neusten Umfragen zufolge würde Hollande gegen Sarkozy in der Stichwahl mit 60 zu 40 Prozent siegen. Dabei ist nicht einmal sicher, dass der amtierende Präsident den ersten Wahlgang übersteht: Er liegt mit 24 Prozent Sympathiestimmen nur noch vier Punkte vor der Rechtsextremistin Marine Le Pen. Bereits ist in Paris die Rede von einem «umgekehrten 21. April 2002». An jenem Tag schied der Sozialist Lionel Jospin sensationell gegen Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen aus dem Rennen, womit dieser in die Stichwahl gegen – den nachmaligen Sieger – Jacques Chirac vorstiess. Die Sozialisten haben dieses Trauma offenbar gut überlebt: Hollande scheint heute seinen Einzug in den zweiten Wahlgang mit 31 Prozent fast schon auf sicher zu haben. Sarkozy spürt hingegen bereits den kalten Atem Marine Le Pens in seinem Nacken.
Er weiss, dass er das Blatt nur noch mit einer Herkules-Tat wenden kann. Und dass er eine Scharte auszuwetzen hat, nachdem ihm die Aberkennung des Triple-A durch die Ratingagentur Standard & Poor’s persönlich angekreidet wurde. Deshalb prescht er nun mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer vor.
Diese Abgabe gilt zwar für alle in Frankreich hergestellten oder importierten Produkte. Für französische Hersteller senkt Sarkozy aber gleichzeitig die Sozialabgaben. Er verweist unumwunden auf Deutschlands früheren SPD-Kanzler Gerhard Schröder, der mit diesem Doppelschritt (Erhöhung der Mehrwertsteuer und Senkung der Unternehmensabgaben) die deutsche Exportwirtschaft gegenüber den Importeuren gestärkt habe.
Der französische Präsident erhöht darüber hinaus die Sozialabgabe CSG auf Finanzeinkünfte; auch eine Finanztransaktionssteuer will er durch das Parlament in Kraft setzen lassen. Mit diesen «linken» Anliegen sucht er dem Vorwurf zuvorzukommen, er handle unsozial, wenn er die Arm und Reich gleichermassen treffende Mehrwertsteuer erhöhe.
Bei den Franzosen bleibt aber in erster Linie der Eindruck hängen, dass Sarkozy die Steuern erhöht. «Er versucht vergeblich, das Kostüm eines Käpt’n Courage überzuziehen», frotzelte der sozialistische Senator François Rebsamen. «In Wahrheit erinnert er nur an Molières Ärzte, die den Patienten mit ihren Aderlässen umbrachten, statt zu heilen.» Der Mittepolitiker François Bayrou wirft Sarkozy seinerseits vor, er handle «kopflos und improvisiert», wenn er sich nicht mehr erinnere, dass er vor fünf Jahren «das Gegenteil von heute gemacht» habe.
Die treue Angela
Die erstaunten Kommentare der Pariser Medien legen ebenfalls den Schluss nahe, dass Sarkozys Pokercoup in der Bevölkerung kaum verstanden wird. Die katholische Zeitung «La Croix» fragte etwa, warum Sarkozy plötzlich die höchsten Finanzvermögen stärker besteuern möchte, nachdem er sie bei seinem Amtsantritt begünstigt habe.
Eine der wenigen, die noch an den französischen Staatschef glauben, ist Angela Merkel. Die deutsche Kanzlerin kündigte ihre Teilnahme an mehreren Wahlkampfauftritten Sarkozys schon an, noch bevor dieser seine Wiederwahl-Kandidatur offiziell erklärt hat. Ob eine zupackende deutsche Hand den schlingernden Franzosen auf Elysée-Kurs zu halten vermag?
Sarkozy hat jedenfalls Hilfe von aussen bitter nötig. Vor ihm türmen sich die Wirtschaftsprobleme: Die Arbeitslosigkeit klettert auf zehn Prozent, das Handelsdefizit hat 2011 mit rund 70 Milliarden Euro einen neuen Rekord aufgestellt, die Staatsschuld nimmt mit 1700 Milliarden Euro gigantische Ausmasse an. Und zu all dem droht Frankreich auch eine Rezession.
Der Präsidentenblues
Das überfordert den grössten Herkules im Elysée. Neuerdings sinniert Sarkozy unverhohlen über seine mögliche Niederlage nach. Die Szene ereignete sich in Guayana, dem tropischen Überseegebiet Frankreichs in Südamerika, wo der Président de la République seinen Untertanen beziehungsweise Wählern persönlich die Neujahrswünsche überbrachte.
Doch 7000 Kilometer von Paris entfernt wurde er zwischen Indio-Gesängen und Flussboot-Fahrten plötzlich von einem seltenen Fieber erfasst: dem Präsidentenblues. «Im Fall einer Niederlage höre ich mit der Politik auf. Und eins ist sicher, ihr würdet nie mehr von mir hören», erklärte der Staatschef dem Dutzend mitgereister Journalisten. «Erstmals in meinem Leben bin ich mit meinem Karriere-Ende konfrontiert», ergänzte Sarkozy, um darüber zu philosophieren, wie schön es doch wäre, die Arbeitswoche als Politrentner inskünftig «am Dienstag zu beginnen und am Donnerstagabend zu beenden». Und mit seiner Gattin Carla Bruni und ihrem drei Monate alten Töchterchen Giulia dem Dolce Vita zu frönen, wie er sagte.
Besorgte Fragen
Bisher waren die französischen Medien davon ausgegangen, dass Sarkozy seine Kandidatur für seine Wiederwahl im März, das heisst einen Monat vor Wahl, offiziell verkünden würde. Jetzt sind sie gar nicht mehr so sicher, ob es überhaupt noch dazu kommen wird. «Schon niedergeschlagen?», titelte «Libération» kürzlich an seine Adresse. Das Internetmagazin «Mediapart» fragt ganz direkt: «Hat Sarkozy schon verloren?»
Einige Politexperten mutmassen, Sarkozy habe sich mit der bewusst gestreuten Indiskretion über sein Ende im Elysée als abgehobener, über dem Wahlkampf stehender Präsident zeigen wollen. Solches politisches Kalkül ist bei Sarkozy durchaus anzutreffen; es vermischt sich meist mit einer persönlichen Offenheit, die an Ehrlichkeit grenzt. Gut möglich, dass ihm die chronische Unpopularität näher geht, als er zugeben würde – und dass er seinem alten Reflex eines verwöhnten Jungen folgt, der den ganzen Bettel einfach hinwerfen will. Der die Nase voll hat, genug von der harten Politik, nur noch Lust auf Dolce Vita mit Carla und Giulia.
Um den Schaden zu begrenzen, titelt das präsidiale Leibblatt «Le Figaro», Sarkozy sei «entschlossener denn je». Ein Sprecher seiner Regierungspartei UMP beteuert anonym, der Staatschef werde «wie ein Löwe kämpfen», und Parteichef Jean-François Copé ruft die «Generalmobilmachung für den Sieg von Nicolas Sarkozy» aus. Ein Sieg wie bei Waterloo?
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.02.12