Er ist auf dem Rasen ein Teamkollege von Fussballheld Zico. Auf der Bühne eine singende Legende. Und in Büchern ein grosser Erzähler. Chico Buarque de Hollanda ist Allrounder und Konstante der brasilianischen Kultur. Jetzt wird er mitten im WM-Trubel 70 Jahre alt.
Er hätte Fussballprofi werden können. Mit sechzehn gibt Chico Buarque einen sehr talentierten Mittelfeldspieler ab. Doch die Konkurrenz unter den Adoleszenten ist gross, und nach Testspielen sieht der junge Ballkünstler ein, dass der grüne Rasen nicht seine berufliche Heimat wird. Stattdessen schlägt das Pendel Richtung Musik aus: Geprägt von der Bossa Nova tritt der Philologensohn 1966 bei einem nationalen Songwettbewerb mit «A Banda» an, einer feinen Alltagsbeobachtung über eine vorbeiziehende Kapelle. Ein Hit, auch im Deutschen, mit France Gall allerdings zu «Zwei Apfelsinen im Haar» banalisiert.
Der musikalische Erfolg führt zum Abbruch seines Architekturstudiums. Chico schreibt weitere Hits wie «Carolina», «Essa Moça Tão Diferente» und «Roda Viva», und geht mit letzterem in poetischen Bildern gegen die beengende Atmosphäre unter der herrschenden Militär-Junta an. Musikalisch bleibt er konservativ: Während die Tropikalisten sich in Klangexperimente stürzen, werfen sie Buarque vor, sein Sound, geprägt von eleganten Bossa- und Sambaarrangements und seinem nasalen Phlegma in der Stimme, sei anachronistisch.
Buarque ist – bis heute – eher Chronist und Kommentator statt offener Rebell, gerade das macht ihn für die Mächtigen unberechenbar. 1968 wird er verhaftet und ins Exil nach Italien gedrängt. Dort hält es ihn nur ein Jahr, trotz Zensurzenit kehrt er zurück, bietet 1971 mit «Apesar De Você» («trotz dir») den Machthabern die Stirn und schreibt mit «Construção» ein bitter hämmerndes Gedicht über die Tretmühle im Wahnsinn der Diktatur.
Die Macht des Wortes erfordert eine komplexe, teils dissonant arrangierte Musik. Es beginnt ein beispielloses Katz- und Mausspiel mit den Textprüfern. Buarque trickst unter Pseudonym, schreibt für Film und Bühne, zum Beispiel die «Ópera do Malandro», seine Version der Dreigroschenoper. Und er produziert weiterhin MPB-Klassiker auf elaborierter Samba-Basis wie «O Que Será» und «Meu Caro Amigo», das in Form einer gesungenen Postkarte ein zynisches Bild vom Brasilien der 1970er zeichnet.
Parallel dazu schöpft er tieftraurige und höchst sinnliche Liebeslieder. Als die Demokratie wieder Einzug hält, Mitte der Achtziger, bleibt er kreativ mit einem Album pro Jahr, engagiert sich aber auch für die Landlosenbewegung und fühlt sich unter der neoliberalen Regierung von Cardoso weiterhin den Linken verpflichtet. Sein Schaffen als Schriftsteller verstärkt sich, angefangen mit dem Roman «Estorvo» (dt.: «Der Gejagte») preisgekrönt wie die späteren Bücher.
Ein grosser Allrounder
Chico Buarque wird zur Institution: Maler, Fotografen, Regisseure lassen sich durch seinen gewaltigen Liedkorpus inspirieren, er wird Sujet der Sambaschule Mangueira. Mittlerweile sind grosse Teile seines Werks auf der Webseite des Instituto Antônio Carlos Jobim der Öffentlichkeit in Wort, Ton und Bild zugänglich gemacht worden, darunter ein vielteilige Fernsehbiographie.
Er könnte sich längst aufs Altenteil zurückziehen, doch mit 70 ist Chico Buarque, dieser ewige Frauenschwarm mit den schieferfarbenen Augen, noch immer auf verschiedensten Terrains aktiv: Aktuell zählt er in seinem Werk das 45. Album, es trägt den schlichten Titel «Chico», eingespielt hat er es mit intimer Besetzung zuhause, als Log- und Tagebuch der Facetten der Liebe und des Bohème-Daseins, umgesetzt in Sambas, einem überraschenden Blues, einem Walzer und piekfeinen Balladen.
In seinem jüngsten, vierten Roman, der letztes Jahr auf Deutsch als «Vergossene Milch» erschien, lässt er einen 100-Jährigen Brasiliens Geschichte Revue passieren. Während des künstlerischen Schaffens bleibt immer noch Zeit für den Genuss einer Zigarre, fürs Joggen am Strand vor seinem Apartment in Rios Stadtteil Leblon.
Kritiker des FIFA-Kommerzes und von Fluminense
Und natürlich auch fürs Fussballspielen, das er bis heute in einer Altherrenmannschaft mit ehemaligen Stars wie Zico und Junior pflegt. Chico Buarque lässt es sich auch nicht nehmen, öffentlich gegen die Kommerzauswüchse der FIFA Stellung zu beziehen, die das Nationalheiligtum, das Maracana-Stadion zu einem seelenlosen Tempel für die Reichen umgebaut hat. Selbst seinem ehemaligen Verein, dem Club Fluminense hält er nicht mehr die Treue, da er ihn für dekadent hält. Für ihn geht es auch heute noch immer um das «jogo bonito», das «schöne Spiel», wie er es in seinem Stück «O Futebol» verewigt hat. Dort vergleicht er den Fussballspieler mit einem Komponisten, einem Maler, und den Torschuss mit einem vom Bogen abgefeuerten Pfeil.