Die Einwanderung beschäftigt die Bevölkerung. Nun macht auch die SP Schweiz interessante Vorschläge, klammert aber das Grundproblem aus: Die Personenfreizügigkeit mit der EU war etwas anders gedacht.
Die jüngste Konjunkturprognose der zuständigen ETH-Forschungsstelle KOF lässt die Alarmglocken schrillen – sofern man sie genau liest: Danach wird das Bruttoinlandprodukt im laufenden Jahr um 0,8 Prozent steigen. Gleichzeitig werde die Bevölkerung jedoch um 1,1 Prozent zunehmen, und zwar fast ausschliesslich wegen der Einwanderung. Pro Kopf geht somit das Bruttoinlandprodukt um 0,3 Prozent zurück. So gesehen, schlittern wir also bereits wieder in eine Rezession.
Doch problematisch ist vor allem der auf 1,1 Prozent geschätzte Zuwachs der Produktivität pro Arbeitsstunde. Dieser Wert ist zwar im langfristigen Vergleich normal, bedeutet aber im aktuellen Umfeld, dass die Schweiz 0,3 Prozent an Arbeitsmenge (in Stunden gemessen) verliert, während gleichzeitig 45 000 Arbeitssuchende neu auf den Arbeitsmarkt drängen und dort – immer gemäss Konjunkturforschungsstelle – 42 000 Eingesessene verdrängen.
So war es bisher nicht gedacht. Als die Schweiz Ende der Neunzigerjahre in die Verhandlungen um die Personenfreizügigkeit einstieg, durfte man noch davon ausgehen, dass es sich hier um ein Geben und Nehmen handle. Die Schweizer bekommen die Möglichkeit, sich im ganzen EU-Raum um eine Stelle bewerben zu können. Im Gegenzug können Schweizer Unternehmen ihre Arbeitskräfte auf einem grösseren Markt rekrutieren. Alles in allem würde sich die Ein- und Auswanderung etwa die Waage halten. Das war die unausgesprochene Geschäftsgrundlage dieses Verhandlungsprozesses.
Als sich dann ab etwa im Jahr 2000 abzeichnete, dass die Arbeitskräfte praktisch nur in Richtung Schweiz wanderten, tröstete man sich mit einer neuen Philosophie: Die Einwanderung sei das Ergebnis unserer starken Wettbewerbsfähigkeit und der guten Konjunkturlage. In einer Rezession würde die Einwanderung deutlich zurückgehen. 2009 konnte man das noch halbwegs glauben, obwohl die Netto-Einwanderung mit rund 80 000 Personen (Arbeitnehmer, Familienmitglieder, Flüchtlinge) immer noch sehr hoch war. Doch inzwischen erweist sich auch diese Hoffnung als trügerisch. Der Einwanderungsdruck nimmt auch in der Rezession nicht ab. Im Gegenteil: Er steigt sogar weiter an.
Der Grund liegt auf der Hand: Die EU-Länder rund um uns herum haben systematisch ihre Arbeitsmärkte kaputt gemacht, mit Jugendarbeitslosenquoten von 10 Prozent in Deutschland, bis 50 Prozent und mehr in Spanien und Griechenland. In diesem Umfeld wirkt die Schweiz plötzlich wie eine Oase in einer Arbeitsmarktwüste. Das gilt vor allem für die jungen – und damit mobilen – Arbeitssuchenden. In keinem andern Land – abgesehen vielleicht von Luxemburg und Liechtenstein – ist die Aussicht, einen Job zu finden, so gross wie in der Schweiz.
Und in Deutschland, wo der Arbeitsmarkt zurzeit ein kleines Zwischenhoch erlebt, sind die Löhne und Arbeitsbedingungen, die zumindest Neueinsteiger erwarten können, deutlich schlechter als in der Schweiz. Und weil keine Sprachbarriere überwunden werden muss, stellt Deutschland weiterhin den Hauptharst der Einwanderer in die Schweiz.
Kaputter EU-Arbeitsmarkt
Die Schweiz ist somit zum Überlaufbecken für einen kaputten europäischen Arbeitsmarkt geworden. Bisher haben wir das relativ gut ausgehalten. Die Konjunkturforschungsstelle rechnet damit, dass das zumindest dieses und nächstes Jahr so bleiben, beziehungsweise dass die Zahl der Arbeitslosen «nur» um 5000 ansteigen werde. Sie macht dazu aber die kühne Annahme, dass sich 60 000 bisherige Arbeitnehmer freiwillig zurückziehen und dass 20 000 weitere Stellen durch die Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeit-stellen geschaffen werden können.
Doch auch diese Umwandlung ist nicht unproblematisch. Der Kampf um die schwindende Arbeitszeit geht nämlich gemäss einer Studie der OECD in der Regel so aus: Die ohnehin Gutverdienenden können ihr Pensum verteidigen. Die schlecht bezahlten haben immer weniger Arbeit. Das gilt auch für die Schweiz: Allein zwischen 2000 und 2010 hat das – am Stundenlohn gemessene – ärmste Fünftel der Arbeitnehmer 15 Prozent und mehr seiner Arbeitszeit und 11 Prozent seines Monatslohns verloren. Zwar ging auch die mittlere Arbeitszeit des reichsten Zehntels leicht zurück, doch dieser Rückgang wurde durch die Erhöhung des mittleren Stundenlohns mehr als kompensiert. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Reichen freiwillig, die armen aber unfreiwillig auf Arbeit verzichtet haben.
Doch es kommt noch ein weiterer Schaden hinzu: Die Einwanderung führt auch zu einer Verdrängung auf dem Immobilienmarkt. Einst preisgünstige Wohnungen werden luxussaniert. Unter den entsprechenden Mieterhöhungen leiden vor allem die ärmeren Einkommensschichten. Die reicheren können sich Häuser oder Eigentumswohnungen leisten und dabei von den tiefen Zinsen profitieren. Die grössten Profiteure der Einwanderung sind jedoch die Bodenbesitzer, die ihr Land teuer verkaufen oder vermieten können. Die durch den Einwanderungsdruck geschaffene zusätzliche Bodenrente dürfte sich jährlich auf 35 bis 40 Milliarden Franken belaufen.
Auch die SP Schweiz muss inzwischen einsehen, dass die Personenfreizügigkeit, für die sie sich immer eingesetzt hat, ihrer eigenen Klientel schadet. Mit ihren neuen Vorschlägen versucht sie, diese Schäden wenigstens zu begrenzen. Sie setzt dabei in erster Linie auf eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen. Damit soll ein Druck auf die Löhne verhindert werden. Ein zweiter Schwerpunkt liegt im gemeinnützigen Wohnungsbau. Normalverdiener sollen auch in Zukunft ihre Mieten bezahlen können. Neu ist der Vorschlag, Unternehmen nicht mehr mit günstigen Steuern in die Schweiz zu locken, sondern sie im Gegenteil mit höheren Steuersätzen zu belasten.
Einwanderungsdruck bleibt
Sie sollen damit für die zusätzlichen Kosten aufkommen, welche der Zustrom von neuen ausländischen Arbeitskräften verursacht. Diese Vorschläge sind alle bedenkenswert und können sicher noch verfeinert werden. Die Schweiz kann von sich aus einiges tun, um die Folgen der Einwanderung abzumildern. Insbesondere braucht es verbesserte Möglichkeiten, um die immens wachsende Rente der Bodenbesitzer abzuschöpfen. Das ist ein rein internes Verteilungsproblem, das intern gelöst werden kann.
Aber das reicht nicht. Wir können zwar alles unterlassen, was noch mehr Ausländer in unser Land lockt. Aber wir können den Einwanderungsdruck von aussen nicht verhindern. Folglich müssen wir mit der EU reden. Die Schweiz muss die Freizügigkeit neu verhandeln. Dabei können wir uns auf einen Grundlagenirrtum berufen.
Wir sind nicht davon ausgegangen, dass die EU mit ihrer verfehlten Spar- und Arbeitsmarktpolitik ihre Bürger geradezu dazu zwingt, Arbeit im Ausland zu suchen. Und das Ausland der EU ist zu einem Teil nun einmal die Schweiz, daran gibt es nichts zu rütteln.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12