Für Winterthur ist der Cup-Halbfinal gegen den FC Basel das grösste Ereignis seit Jahrzehnten. Das ist erstaunlich, denn der FC Winterthur ist so miserabel in die Saison gestartet, dass andernorts der Trainer entlassen worden wäre. Nicht aber beim FCW und Hannes W. Keller, seinem Präsidenten.
Es war ein bitterkalter Ostermontag Ende März 1975, als sich der FC Basel und der FC Winterthur im Cupfinal trafen. Der FCW war in jenen Wochen Zweiter hinter Meister FC Zürich, der FCB folgte dahinter. Und es waren die Jahre, in denen sich die Winterthurer, zuerst dank Timo Konietzka, dann mit Trainer Willy Sommer, aus der Nationalliga B in die weitere Spitzengruppe der Nationalliga A vorarbeiteten.
Es waren die Jahre, an die Karl Odermatt diese Erinnerung hat: «Nie haben wir in Winterthur gewonnen.» Ganz so war es zwar nicht, aber in den sieben Saisons vom FCW-Aufstieg 1968 bis zum Cupfinal verloren selbst meisterliche Basler fünfmal auf der Schützenwiese und siegten nur ein Mal. Aber den Cupfinal gewannen sie 2:1 durch ein Tor Walter Balmers in der Verlängerung.
Eine Woche später fuhren sie nach Winterthur und holten – mit einem 0:2 – die übliche Niederlage ab. Doch das war das Ende der sonnigen Ära des FCW. In den letzten Wochen jener Meisterschaft fiel die Mannschaft auseinander; sie rutschte – am FCB vorbei – vom 2. auf den 8. Platz ab. Am Saisonende verliessen Sommer und Spitzenspieler wie Hans Küng, der spätere FCB-Torhüter, Peter Risi, der Topscorer, oder Pius Fischbach den Verein.
Nur noch ein ganz kleiner Fleck
Zwei Jahre später war der FCW nicht mal mehr in der NLA, bis 1985 noch zweimal ein Jahr, seither nie mehr. Wenn heute in Winterthur von den «goldenen Jahren» gesprochen wird, sind es jene vom Erscheinen Konietzkas 1967 über Aufstieg und Cupfinal 1968 bis zum Cupfinal 1975 und dem Abstieg 1977. Seither ist Winterthur auf der Landkarte des Schweizer Fussballs nur ein ganz kleiner Fleck, der manchmal fast nicht mehr erkannt wurde. 1998 stieg der FCW gar in die 1. Liga ab.
Immer wieder war er finanziell in seiner Existenz bedroht, zuletzt Anfang des Jahrtausends. Es herrschte ein Chaos, als Unternehmer Hannes W. Keller am Abend des 11. September 2001, seither weltweit als «nine/eleven» bekannt, vom Trikotsponsor zum Präsidenten wurde. Lange, sehr lange dauerte es und es brauchte viel Geld des Präsidenten, um den Verein vor dem Konkurs zu bewahren, ihm – mit einer Garantie über zwei Millionen Franken – die Lizenz zu erhalten und ihn allmählich in ruhigeres Fahrwasser zu führen.
Keller ist Physiker. Mit seinen Patenten wurde seine 1974 gegründete «Keller AG für Druckmesstechnik» zum Marktführer für Industrie-Drucktransmitter in Europa. Keller, mittlerweile 73, ist ein Patriarch alter Schule. Wer sein Vertrauen mal gewonnen hat, den lässt er nicht fallen. Aber er lässt wenige Gelegenheiten aus anzuecken, etwa wenn es um Winterthurs Stadtobere geht. Und einer wie er muss halt auch damit rechnen, dass sich nicht als Gönner verfügbar hält, wer vom Präsidenten mal angepflaumt wurde.
Zwölf Millionen in zehn Jahren
Seine Art, den Verein zu führen, ist nun mal speziell. Im vergangenen September meinte er zum Jubiläum, zehn Jahre FCW-Präsident zu sein: «Als ich begann, sagten meine Angestellten: Er gäbe gescheiter uns mehr Lohn. Heute aber sind sie stolz, denn längst weiss jeder, was die Firma Keller ist, in der er arbeitet.» Für einen wie ihn ist der Erfolg nicht das Mass aller Dinge. An Ansehen hat der Verein unter ihm entscheidend gewonnen, die Bonität sucht in der Liga ihresgleichen. Aber der sportliche Erfolg ging zu selten damit einher.
In zehn Jahren hat Keller, Alleinaktionär der FCW AG, rund zwölf Millionen Franken in den Club gesteckt. Jahr für Jahr trägt er etwa ein Drittel des Jahresbudgets von rund vier Millionen. In dieser Saison sind also nochmals rund anderthalb Millionen hinzugekommen.
Als der FCW vor einem Jahr bis zur zweitletzten Runde gegen den Abstieg kämpfen musste, mit einem Kader, das doch viel zu gut dafür schien, rettete er sich mit einem 1:0 gegen Biel – dank einem Fallrückzieher Rainer Bielis, der von Xherdan Shaqiri hätte sein können. Da stand der Präsident nach dem Schlusspfiff auf dem Platz – mit feuchten Augen. Und die hatte er auch wieder im vergangenen November, als der FCW die grossen Young Boys aus dem Cup geworfen hatte.
Jeder andere Club hätte seinen Trainer entlassen
Wie da die Winterthurer Mehrheit unter 6000 Zuschauern eine starke Leistung über 120 Minuten und danach den Triumph im Elfmeterschiessen bejubelte, zeigte ihm, dass er doch etwas zurückerhielt für seinen Aufwand. Zumal sich dieser Sieg nur knapp zwei Monate nach krisenhaften Tagen ereignete, die bei so gut wie jedem anderen Verein zur Entlassung des Trainers geführt hätten.
Nach neun Runden hatte Boro Kuzmanovic mit seiner Mannschaft, die er zusammengestellt und der er ganz andere Ziele gesetzt hatte, erst sieben Punkte gewonnen. Nach der Heimkehr von einem Montagsspiel in Bellinzona, das am 3. Oktober mit einer an Harmlosigkeit kaum mehr zu überbietenden Leistung 0:2 verloren worden war, sahen selbst Kuzmanovic Wohlgesinnte kaum mehr einen Ausweg.
Keller aber widerstrebte, einen seriösen Familienvater zu entlassen. Schon ein halbes Jahr zuvor, an Ostern 2011, hatte er mitten im Abstiegskampf nach einer Heimniederlage gegen den abgeschlagenen Letzten Yverdon vor dieser Frage gestanden. Damals fällte er den, wie er es nannte, «päpstlich-präsidialen Entscheid», Kuzmanovic im Amt zu halten. Er hoffte damit, es habe ein Ende mit der bis in die Vereinsführung hinein aufgekommenen Nervosität. So war es dann nicht ganz, aber gerettet hat sich der FCW.
Gespräche auf dem Trainingsplatz
Anfang Oktober stand nach dem Match in Bellinzona ein freies Länderspiel-Wochenende an, also gab es wieder Zeit zum Überlegen. Wieder erfasste die Meinung, Kuzmanovic sei zu entlassen, selbst Teile des Vorstands; und Keller musste sich auf der Tribüne anpöbeln lassen. Diesmal war die Lage schärfer, weil die Reduktion der Challenge League auf zehn Teams ansteht. Und zu denen muss der Verein aus der sechstgrössten Stadt im Land, die mittlerweile auf über 100’000 Einwohner angewachsen ist, nach seinem Selbstverständnis gehören. Sein Budget gehört ja auch zu den Top 10.
Also erschien der Präsident in jener Oktoberwoche ausnahmsweise im Training. Er rief führende Spieler herbei und gewann dabei den Eindruck, die Mannschaft stehe hinter dem Trainer, also gebe es keinen Grund zu einem Wechsel. Der Trainer selbst sagte damals: «Ich gebe nicht auf.» Und heute: «Ich weiss, dass ich überall sonst hätte gehen müssen.»
Am Samstag darauf gewann der FCW gegen den Erstligisten Rapperswil-Jona vor ein paar Zuschauern 3:0. Jener Freundschaftsmatch gilt mittlerweile als «Schlüsselereignis», wie es Captain Stefan Iten formuliert: «Die Stimmung in der Kabine war wie vor einem Meisterschaftsspiel. Jeder Einzelne hatte gemerkt, worum es ging, nämlich auch um unsere Jobs.» Iten sagt aber auch noch: «Es war ein offenes Geheimnis, dass jeder Spieler zum Trainer stand – wie schon in der letzten Saison. Wir kommunizierten das dem Präsidenten auch so. Und wenn es anders gewesen wäre, hätten wir es auch gesagt.»
Winterthur im Cup-Fieber
Natürlich waren die Probleme allein mit präsidialem Handauflegen nicht gelöst. Kuzmanovic stellte seine Abwehr völlig um. Sven Lüscher, bester Mann im Kader, wurde vom Rechtsverteidiger wieder zur Offensivkraft; neu war der Grieche Savvas Exouzidis, ein mentaler Riese, nicht mehr «Sechser», sondern Abwehrchef. Und es kam im November noch Stürmer Patrick Bengondo zum dritten Mal nach Winterthur, ein Publikumsliebling früherer Jahre. Er half, sich mit den Zuschauern zu versöhnen, die begreiflicherweise schwer trugen an einem ganzen Jahr 2011 mit nur einem Heimsieg.
Seit Oktober hat der FCW in der Challenge League am meisten Punkte gewonnen, mehr sogar als Spitzenreiter St. Gallen. Er verlor von 17 Pflichtspielen nur noch eines; im Cup warf er nach YB auch St. Gallen raus. In der Meisterschaft hat er mittlerweile gar Aussenseiterchancen auf Platz 2 – aber schon vor Wochen wurde beschlossen, die Super-League-Lizenz nicht zu beantragen.
Die Stimmung in Winterthur ist zurzeit wie nie mehr seit jenem bis heute letzten Cupmatch gegen den FCB. Für den Viertelfinal gegen St. Gallen wurden erstmals in der Clubgeschichte die Kassen nicht geöffnet, die 8500 Karten für den FCB-Match waren binnen weniger Stunden vergriffen. Es freut sich eine ganze Stadt, die sonst nicht als fussballverrückt gilt. Und ein Präsident, für den auch diese Episode steht: Nach dem Match gegen YB sprach er mit dem Captain über die Prämien. Iten formulierte einen Wunsch, der Präsident anerkannte dessen Bescheidenheit – und verdoppelte.
Sollte Karl Odermatt übrigens an die Stätte früherer Niederlagen zurückkehren, fände er sich in der Vergangenheit wieder: Das Stadion sieht noch so aus wie ehedem, und die «Wiese» ist auch heute nicht ebener.
Die letzten zehn Cupfinals
2002 Basel–Grasshoppers 2:1 n.V.
2003 Basel–Neuchâtel Xamax 6:0
2006 Sion–Young Boys 1:1, 5:3 n.P.
2012 Luzern–Winterthur/Basel* 16. Mai in Bern
*Der FC Luzern setzte sich am Mittwoch im ersten Halbfinal mit 1:0 gegen den FC Sion durch. Der Halbfinal in Winterthur findet am Sonntag, 15. April statt (14.00 Uhr, live auf SF2)
Quellen
Wenn Sie mehr erfahren wollen über den Autor dieses Beitrags: Die sehr empfehlenswerte Seite www.schuetzi.tv hat Hansjörg Schifferli – obwohl der keinerlei Wert darauf legte – liebevoll portraitiert.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12