Passagierflugzeug stürzt im Raketenhagel ab – 295 Tote

Ein malaysischer Passagierjet ist in der Ostukraine abgestürzt. Spekulationen, wonach das Flugzeug mit den 295 Passagieren an Bord abgeschossen worden sei, können noch nicht mit Sicherheit bestätigt werden. Prorussische Separatisten und die Regierung in Kiew machen sich derweil gegenseitig verantwortlich.

Beim Absturz des malaysischen Flugzeugs soll es keine Überlebenden gegeben haben. (Bild: REUTERS/Maxim Zmeyev)

Ein malaysischer Passagierjet ist in der Ostukraine abgestürzt. Spekulationen, wonach das Flugzeug mit den 295 Passagieren an Bord abgeschossen worden sei, können noch nicht mit Sicherheit bestätigt werden. Prorussische Separatisten und die Regierung in Kiew machen sich derweil gegenseitig verantwortlich.

Rauchsäulen im Abendhimmel, brennende Wrackteile, verstümmelte und verkohlte Leichen, weit verstreut in einem Umkreis von fast 15 Kilometern. So beschrieben Augenzeugen am Donnerstagabend die dramatischen Szenen zwischen den Ortschaften Grabovo und Schachtarsk im umkämpften Osten der Ukraine.

Die blutige Krise dort spitzt sich am Nachmittag auf tragische Weise erneut zu. Eine malaysische Passagiermaschine stürzt in der Region ab, in der seit Monaten heftige Gefechte zwischen prorussischen Milizen und Regierungstruppen toben, und zerschellt am Boden. Die Fluglinie Malaysia Airlines bestätigt zunächst nur, dass sie um 16.20 Uhr Ortszeit den Kontakt zu der Maschine verloren habe.

Gegenseitige Vorwürfe

Dennoch werden sofort Vermutungen laut, die Boeing sei in dem Kampfgebiet von einer Rakete getroffen worden. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko gibt diesen Spekulationen schnell Nahrung. Es handele sich «nicht um einen Zwischenfall, sondern um einen terroristischen Akt». Die Schuldigen müssten bestraft werden, fordert er

Ein Experte des ukrainischen Innenministeriums geht stärker ins Detail. Anton Geraschtschenko und behauptet, die todbringende Rakete sei von einem Buk-Flugabwehrsystem sowjetischen Typs abgefeuert worden. Bei diesen Waffen wird ein radargesteuerter Sprengkopf in der unmittelbaren Nähe eines fliegenden Objekts zur Explosion gebracht. Das Ziel wird regelrecht «durchsiebt».

Beweise für Geraschtschenkos Abschussversion gibt es am Donnerstagabend allerdings nicht. Ein Sprecher der Separatisten bestreitet, dass die Aufständischen über Waffen in der Art des Buk-Systems verfügen und macht seinerseits die ukrainischen Streitkräfte für den Abschuss verantwortlich. Allerdings hatten die prorussischen Kräfte nach einem Bericht der regierungsnahen «Kyiv Post» vor wenigen Wochen erklärt, Flugabwehrsysteme aus alten Sowjetbeständen erbeutet zu haben.

Menschliche Tragödie

Schnelle Klarheit über den Hergang der Katastrophe wird es kaum geben. Erste Retter und Experten dringen kurz vor Einbruch der Dunkelheit in die umkämpfte Region vor, die von den Aufständischen kontrolliert wird. Der Flugschreiber soll sich in ihren Händen befinden. Die Absturzstelle liegt rund 80 Kilometer östlich von Donezk. Die Orte Grabowo und Schachtarsk, in deren Umkreis die Trümmer niedergehen, sind nicht weit von der Kleinstadt Snischne entfernt, wo am Dienstag eine Rakete ein Wohnhaus zerstört und elf Menschen getötet hatte. Die Ukraine beschuldigte damals das russische Militär der Täterschaft.

Angesichts der wachsenden Kriegsgefahr gerät die menschliche Tragödie von Flug MH 17, der von Amsterdam auf dem Weg nach Kuala Lumpur war, am Donnerstagabend fast zur Nebensache. Dabei haben Hunderte Menschen ihre Angehörigen verloren, weil sie in einer Passagiermaschine sassen, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. Auch zwei Dutzend Niederländer, mehrere US-Amerikaner und vier Franzosen sollen an Bord gewesen sein. Der ukrainische Präsident Poroschenko kündigt die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission an. Die europäische Flugsicherung schliesst am Abend den Luftraum über der Ukraine.

Abschuss nicht unwahrscheinlich

Die Katastrophenmeldung reiht sich am Donnerstag an weitere dramatische Nachrichten aus dem Krisengebiet, die einen Abschuss des zivilen Flugzeugs noch wahrscheinlicher machen. Am Mittag hatte der Nationale Sicherheitsrat (SNBO) in Kiew der russischen Luftwaffe vorgeworfen, einen ukrainischen Kampfjet vom Typ Suchoj SU-25 über ukrainischem Territorium abgeschossen und damit einen kriegerischer Akt begangen zu haben. Präsident Poroschenko weist die Sicherheitskräfte an, auf den Angriff «zu reagieren». Genauere Angaben zu einer möglichen Reaktion macht das Präsidialamt nicht. Die russische Regierung weist die Darstellung als absurd zurück.

Der Vorfall ereignete sich laut SNBO-Sprecher Andri Lysenko bereits am Mittwochabend. «Gegen 19 Uhr gab es von Seiten der Russischen Föderation eine ausserordentliche Provokation. Ein Kampfflugzeug der russischen Luftwaffe feuerte eine Rakete auf eine ukrainische SU-25, die über ukrainischem Gebiet im Einsatz war.» Die Maschine sei am Heck getroffen worden. Der Pilot des Suchoj-Jets habe sich mit dem Schleudersitz retten können und sei in Sicherheit. Das Flugzeug stürzte ab und zerschellte am Boden.

Absturz fällt mitten in geplante Gespräche

Völlig unstrittig ist, dass sich die von Russland unterstützten Aufständischen seit Tagen mit den ukrainischen Truppen heftige Gefechte liefern, bei denen auf beiden Seiten Raketen zum Einsatz kommen. So hatte am Montag eine Boden-Luft-Rakete ein ukrainisches Transportflugzeug vom Typ Antonow AN-26 getroffen und zerstört, das in 6500 Meter Höhe flog. Laut SNBO wurde die Rakete von russischem Territorium abgefeuert.

Die dramatische Zuspitzung kommt in einem Augenblick, in dem sich neue Bewegung im Ukraine-Konflikt abzeichnete. Ursprünglich wollte die Kiewer Regierung am Donnerstagabend einen weiteren Versuch unternehmen, mit den Separatisten in einer Videokonferenz Verhandlungen anzubahnen. Ein Gesprächsversuch am Dienstag war gescheitert. Zugeschaltet werden sollten Vertreter Russlands und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Meldungen über den Flugzeugabsturz dürften aber eine völlig neue Lage schaffen.

Verschärfter Ost-West-Konflikt

Auch auf internationaler Ebene verschärfte sich angesichts der Ukraine-Krise der Ost-West-Konflikt. Am späten Mittwochabend hatten die Staats- und Regierungschefs der EU die Sanktionen gegen Russland ausgeweitet. Erstmals sind auch einzelne Unternehmen betroffen, die künftig keine Geschäfte mehr in der EU machen dürfen. Ihre Vermögenswerte werden eingefroren. Auch die USA verhängten weitere Sanktionen, unter anderem gegen den Waffenproduzenten Kalaschnikow, den Öl-Giganten Rosneft und die Gasprom-Bank.

Bundeskanzlerin Angela Merkel begründete den Schritt mit der russischen Tatenlosigkeit in der Ukraine-Krise. Die Erwartungen und Vereinbarungen seien «in allen Punkten nicht erfüllt worden», sagte die deutsche Regierungschefin. Der Kreml reagierte scharf auf die Sanktionsankündigung. Präsident Wladimir Putin warnte vor allem die USA, die Konfrontation könne «zum Bumerang werden».

In einem Telefongespräch mit US-Präsident Barack Obama äusserte Putin seine «ernste Enttäuschung» über die Strafmassnahmen. Zugleich forderte er eine sofortige Waffenruhe in dem Krisengebiet. So zynisch es klingt: Die Tragödie von Flug MH 17 könnte im besten Fall den Weg dazu ebnen.

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