Piraten lehren der Polit-Elite das Fürchten

Der Einzug der Piraten in die deutschen Parlamente wirbelt die Parteienlandschaft durcheinander. Die traditionellen Regierungs­konstellationen – schwarz-gelb, rot-grün – sind kaum noch möglich. Doch das kann auch eine Chance sein.

Der SPD-Troika droht neue Konkurrenz durch die Piraten: Parteichef Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier könnte die Feierlaune bald vergehen. (Bild: SEBASTIAN KAHNERT/Keystone/AP)

Der Einzug der Piraten in die deutschen Parlamente wirbelt die Parteienlandschaft durcheinander. Die traditionellen Regierungs­konstellationen – schwarz-gelb, rot-grün – sind kaum noch möglich. Doch das kann auch eine Chance sein.

Vor ein paar Monaten noch war die Welt für die deutschen Sozialdemo­kraten in Ordnung. Einer aus der Führungstroika der SPD würde bei der kommenden Bundestagswahl 2013 Bundeskanzler werden, alle Umfragen liessen daran keinen Zweifel.

SPD und Grüne schwebten auf einem Stimmungshoch. Parteichef Sigmar ­Gabriel, Frank-Walter Steinmeier, Vorsitzender der Parlamentsfraktion, und Peer Steinbrück – aktuell ohne Parteiamt, doch von Alt-Kanzler Helmut Schmidt als kanzlerfähig geadelt – zeigten sich einträchtig in der Öffentlichkeit, nach Kräften darum bemüht, nicht zu früh in die Spitzenposition zu ­drängen. Wer zuerst springt, landet oft zu kurz.

Alle drei haben noch das Beispiel der letzten Troika der SPD vor Augen: Mitte der 1990er-Jahre buhlten Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping um die Macht. Lafontaine und Scharping waren ohne Chance, erst Schröder gelang im dritten Anlauf der Sprung ins Kanzleramt. Wie damals Lafontaine, Scharping und Schröder plagen auch heute die drei Kan­didaten keine Selbstzweifel, jeder ist sich gewiss, das Zeug zum Kanzler zu haben.

In den vergan­genen Wochen jedoch sind die Mienen von Gabriel, Stein­meier und Steinbrück nachdenklicher geworden. Die Piraten entern die Parlamente, eins nach dem anderen. Zuerst in Berlin, Ende September 2011. Die 8,9 Prozent konnte man noch als Protest abtun, Grossstadt eben, in der alternative Milieus besonders gut gedeihen.

Inhaltlich wussten die etablierten Politiker herzlich wenig über die neue Konkurrenz. Das Jahr 2012, so die ­damalige Perspektive, fände ohne Landtagswahlen statt. Das Feuer für die ­bleichen Computerfreaks, die Freiheit für das Internet forderten, würde bis zur Bundestagswahl 2013 schnell ­v­er­löschen.

Freibeuter marschieren durch

Doch dann scheiterte die Regierung im Saarland, die bundesweit erste Koalition von CDU, FDP und Grünen, an den internen Querelen der Liberalen. Das Verfassungsgericht beurteilte die Wahl 2009 in Schleswig-Holstein als verfassungswidrig. Und in Nordrhein-Westfalen brachte die von der Linken geduldete rot-grüne Minderheitsregierung den Haushalt nicht durchs Parlament.

In allen drei Bundesländern musste neu gewählt werden. Im Saarland ­zogen die Piraten Ende März ins Par­lament, in Schleswig-Holstein am ­vergangenen Wochenende. Dass es ihnen am kommenden Sonntag auch in Nordrhein-Westfalen gelingen wird, daran gibt es keinen Zweifel. Und auch bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr sagen alle Umfragen den ­Piraten den Einzug in den Bundestag voraus. Das Parteiensystem wird instabiler, die Koalitionsoptionen werden unübersichtlicher.

Vermutlich bevölkern künftig die Abgeordneten von sieben Parteien den Plenarsaal. Noch bis Anfang der 1980er-Jahre hatten CDU, CSU, SPD und FDP das Parteiengerüst der Bundesrepublik gestellt, CDU und CSU bis heute als Fraktionsgemeinschaft im Bundestag. Dann kamen die Grünen, getragen von Anti-Atomkraft-, Friedens- und Umweltgruppen und der Emanzipations­bewegung.

Nach Mauerfall und Wiedervereinigung hielt dann die Linke Einzug, hervorgegangen aus der Sozialistischen Einheitspartei der DDR. Und jetzt kommen die Piraten, von denen, so der Parteienforscher Ulrich Eith, drei Viertel der Wähler nicht wissen, wo sie stehen. «Es sind Protestwähler», sagt Eith, «hier kanalisiert sich das Unbehagen an der aktuellen Politik.»

Wie nachhaltig der Erfolg der Piraten sein wird, ob sie sich langfristig in der Parteienlandschaft etablieren können, wird sich zeigen. Vorerst kokettieren sie noch mit ihrem Unwissen in ­vielen Politikfeldern und ihrer Lern­bereitschaft. Und punkten damit beim flexibler gewordenen Wähler.

Was vermutlich niemand so richtig einschätzen kann, ist das Aktivierungs­potenzial der Piraten über Twitter, Facebook und Internet. Die Piraten aber wissen selbst, was auf sie zukommt: Gegenwärtig verfügt die Partei mit rund 25 000 Mitgliedern nur über 25 hauptamtliche Funktionäre. Gelingt ihnen der Einzug in den Bundestag, werden es mehr als 600 sein, wie Johannes Po­nader, der politische Geschäftsführer der Piraten, am vergangenen Sonntag in der ARD bei Günther Jauch vorrechnete. Bis dahin gelangen auch die Piraten wegen ihrer Wahlerfolge in den Genuss staatlicher Parteienförderung. Bislang engagieren sich die meisten Piraten wie Ponader ehrenamtlich.

Politisch sind die Piraten schwierig zu verorten, werden aber – nach ihrer Distanzierung von rechtsextremen Positionen einzelner Mitglieder – von den meisten Beobachtern eher links der Mitte eingestuft.

Rot-Grün spekuliert mit Piraten

SPD und Grünen nützt das wenig: Die Piraten gelten wegen ihrer noch ­unfertigen Standpunkte als nicht koa­li­tionsfähig. Zudem versprechen sie Transparenz selbst bei Koalitionsverhandlungen, wie Anfang der 1980er-Jahre auch die Grünen. Im Gegensatz zu diesen aber verfügen sie über die Technik, das Transparenzversprechen auch umzusetzen. Doch selbst die Grünen wollen die Kungeleien in Hinterzimmerrunden lieber unter dem Deckel halten. Darüber hinaus haben sie Berührungsängste gegenüber den Piraten. Sie fürchten um Wählerstimmen, nahmen sie doch bislang den Status Protest­partei für sich in Anspruch.

Rot-Grün könnte sich allerdings von den Piraten dulden lassen und so eine Mehrheit gewinnen. In Schleswig-Holstein wird schon darüber nachgedacht, die knappe Mehrheit im Parlament von einer Stimme für SPD, Grüne und SSW – die Vertreter der dänischen Minderheit – mit der einen oder anderen Piraten-Stimme aufzubessern. Ansprechpartner gibt es: Angelika Beer, über die Landesliste der Piraten neu im Kieler Landtag, war von 2002 bis 2004 Bundesvorsitzende der Grünen.

Auch der Union kann der Aufstieg der Piraten nicht gleichgültig sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel quält sich mit ihrem Koalitionspartner FDP. Die Liberalen kämpfen um ihr politisches Überleben und profilieren sich derzeit mit Positionen, die Merkels Interessen entgegenstehen, bei der Finanztrans­aktionssteuer zum Beispiel, beim Mindestlohn oder bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck.

Derzeit dümpelt die Partei in Umfragen bei fünf Prozent, ob sie 2013 diese Hürde für den Einzug in den Bundestag überspringt, ist fraglich. In Schleswig-Holstein hat der dortige FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki die 8,2 Prozent nur mit einem Wahlkampf erreicht, der sich dezidiert gegen die eigene Partei in Berlin gerichtet hat, quasi als «parteiinterne Protestpartei», so Eith.

In Nordrhein-Westfalen hat Chris­tian Lindner einen ähnlichen Kurs eingeschlagen, auch er dürfte reüs­sieren. Für die Bundespartei, vor allem für ihren Vorsitzenden Philipp Rösler, heisst das nichts Gutes.

Selbst wenn die von vielen Kommentatoren schon totgesagte FDP 2013 in den Bundestag einzöge – die 14,6 Prozent von 2009 wird sie nicht erreichen. Merkel bliebe dann einzig ein dritter Koalitionspartner. Die Grünen hat man sich einige Zeit lang in dieser Rolle vorstellen können. Doch als Retter von Schwarz-Gelb kommen sie derzeit nicht infrage. Für Merkel bleibt als einzige Perspektive die grosse Koalition, mit der SPD als Juniorpartner.

Für die Sozialdemokraten wäre das jedoch die allerletzte Machtoption, sie wollen selber den Kanzler stellen, Koch, nicht wieder nur Kellner sein. Sie können nur hoffen, dass sich die FDP-Renegaten in Kiel und Düsseldorf mit ihren Erfolgen in den Landtagswahlen auch in der Bundespartei durchsetzen und damit vielleicht die Ampel – Rot, Grün, Gelb – möglich machen.

Christian Lindner hat schon vor­sichtig Signale ausgesendet, die FDP wieder stärker sozialliberal ausrichten zu wollen. Er hat erkannt, dass sich die FDP mehrere Koalitionsmöglichkeiten offenhalten muss und sich nicht auf ­Gedeih und Verderb als reine wirtschaftsliberale Partei an die Union binden darf. Die nachdenklichen Mienen der SPD-Troika verdeutlichen so eher das Auswahlproblem, wer von den Dreien eine solche Koalition am besten führen kann.

Die vermutliche Parteienvielfalt im nächsten Bundestag bricht überkommene Koalitionsmuster und bringt so frischen Wind in die deutsche Politik. Politische Beobachter fragen sich schon, wann die nächste Partei aus der Taufe gehoben wird. Auf der linken Seite ist der Platz allerdings mittlerweile ziemlich eng. Rechts jedoch ist noch viel Luft, zumal die CDU unter Merkel deutlich Richtung Mitte gerückt ist.

Verwunderlich, dass Deutschland bislang von Rechtspopulisten verschont geblieben ist, die in den Nachbarländern so grossen Zuspruch erfahren – Pia Kjaersgaard in Dänemark, in Holland Geert Wilders PVV, in Frankreich Le Pens Front National, in Österreich die FPÖ und in der Schweiz natürlich Christoph Blocher und die SVP. Doch im konservativen Flügel der CDU grummelt es schon. Für die Parteitaktiker bleiben die nächsten Monate spannend.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.05.12

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