Das jüngste Wahlbarometer der SRG kündigt einen Rechtsrutsch und Höhenflug der SVP an. Der Politologe Georg Lutz kritisiert die Umfrage als bedeutungslos – und ärgert sich darüber, dass die SRG immer noch damit operiert.
Eine politische Zeitenwende steht bevor, nichts weniger verspricht die Nachrichtensendung «10vor10» des Schweizer Fernsehens in ihrer Ausgabe am Mittwochabend. «Mitte-Links verliert die Mehrheit im Parlament», behauptet Moderatorin Andrea Vetsch zur Eröffnung der Sendung. Das neuste Wahlbarometer von Claude Longchamps Institut gfs.bern, im Auftrag der SRG erhoben, soll dafür den Beleg liefern.
Die Aussagen sind einigermassen dramatisch: «Für die SVP geht es steil bergauf», kommentiert «10vor10» die Umfrage. Nachdem die SVP im letzten Wahlbarometer im April verglichen mit den Parlamentswahlen 2011 noch Wähleranteile eingebüsst hatte, scheint es jetzt für die Nationalkonservativen also wieder steil bergauf zu gehen. Die SVP landet aktuell bei 28 Prozent und gewinnt damit 1,9 Prozent dazu seit dem Juni.
«Rechtsrutsch, bei schwächelnder Mitte», steht über dem gfs-Bericht, der – obwohl er immer wieder darauf hinweist, dass es sich nur um eine Momentaufnahme handelt –, eine eindeutige Interpretation seiner am 24. August durchgeführten Umfrage gleich mitliefert.
Nervöse Reaktionen
Die SVP legt deutlich zu? Hat der gefühlte Stimmungsumschwung in den letzten Wochen also gar nicht stattgefunden? Werden Flüchtlinge trotz all der Berichte und Bilder nach wie vor in der Diktion der SVP als Bedrohung und Kriminelle eingestuft und nicht als Opfer, die Hilfe brauchen? Selbst das Volksblatt «Blick», stemmt sich ja neuerdings gegen die Hetze.
Plus grand choc du sondage @gfsbern : l‘@UDCch remonte nettement (26.1% en juin, 28.0% en août). #EF2015
— Vincent Arlettaz (@VincentArlettaz) 9. September 2015
Georg Lutz, Umfragenspezialist und Politologe an der Uni Lausanne, mahnt zur Gelassenheit: «Diese Umfrage gibt kaum Hinweise auf mögliche Veränderungen.» Sämtliche Verschiebungen seien innerhalb des Stichprobenfehlers geblieben. Heisst: Es kann so sein, wie von Longchamps Firma behauptet, aber auch ganz anders. Die SVP könnte genauso gut stagnieren, die BDP zulegen, die CVP brutal abstürzen. Alles möglich oder auch nicht.
Diskreter Hinweis
Auf die Unschärfe weist auch «10vor10» hin, allerdings diskret. Rechts unten in den eingeblendeten Grafiken wird wie bei Medikamenten in kaum leserlicher Kleinschrift die Packungsbeilage mitgegeben. Die besagt, dass der statistische Streubereich bei plus oder minus 2,2 Prozent liegt.
Lutz kritisiert das Wahlbarometer: «Über die Qualität der Umfrage kann ich nichts aussagen, dafür fehlen wichtige Angaben. Was aber klar ist: Verschiebungen von unter 2 Prozent substanziell zu interpretieren, ist methodisch nicht haltbar.» Lutz weiss nicht, ob sich die SRG dessen bewusst ist. «So oder so kreiert das Wahlbarometer eine virtuelle politische Debatte ohne genügende empirische Basis.»
SVP in Glaubwürdigkeitskrise
Aussagekräftig findet Lutz die Entwicklung der Bedeutung von politischen Themen bei der Wählerschaft. Etwa, dass fast die Hälfte der Befragten Migrationsfragen als dringendste Probleme erachten. Und dass ausserhalb der eigenen Klientel keiner mehr der SVP Fachkompetenz bei der Lösungssuche dieser Probleme zutraut.
@SVPch radikal & unmenschlich. Folge ist massiver Einbruch ihrer Glaubwürdigkeit im Thema Migration/Asyl.@gfsbern pic.twitter.com/DicUUBli75
— Flavia Wasserfallen (@FWasserfallen) 9. September 2015
Wie beschränkt die Aussagekraft der SRG-Wahlbarometer ist, zeigte sich bei den letzten nationalen Parlamentswahlen vor vier Jahren. Unmittelbar vor der Wahl verkündete gfs.bern einen deutlichen Sieg der SVP bei den Wahlen. Sie wäre zum Zeitpunkt der Befragung auf 29,3 Prozent hochgeschnellt. Keine zwei Wochen später, am Tag des Urnengangs, war der Höhenflug zu Ende: Die Partei sackte auf 26,6 Prozent ab.
Artikelgeschichte
– Donnerstag, 10. September, 20 Uhr: Anmerkung, dass Skandalisierung von Asylbewerbern publizistisches Standbein von «Blick» war nach Disput mit Blick-Redaktor Thomas Ley gestrichen.