Das Verfassungsreferendum ist die wichtigste Weichenstellung in der Türkei seit der Einführung des Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Regierung Erdogan will die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem ersetzen. Aber was heisst das? Eine Erklärung.
Im Laufe seiner politischen Karriere hat Recep Tayyip Erdogan bereits 13 Wahlkämpfe geführt – und alle gewonnen. Aber nie stand mehr auf dem Spiel als jetzt. Bei der Volksabstimmung am 16. April geht es für Erdogan ums Ganze. Das Verfassungsreferendum ist die wichtigste politische und gesellschaftliche Weichenstellung in der Türkei seit der Einführung des Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg.
Erdogan und die islamisch-konservative Regierung wollen die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem ersetzen. Es soll nahezu unumschränkte Macht in den Händen des Staatsoberhauptes bündeln. Das bisherige türkische Grundgesetz beschränkte ihn weitgehend auf repräsentative Aufgaben.
Erdogan hatte seit seiner Wahl zum Präsidenten im August 2014 allerdings eigenmächtig viele Kompetenzen an sich gezogen. Das Präsidialsystem gibt es also eigentlich bereits, es soll jetzt nur noch legalisiert werden – Erdogan schneidert sich eine Verfassung nach Mass.
Was sich mit der Reform ändert
Die Grosse Nationalversammlung wird mit der Reform zwar von 550 auf 600 Abgeordnete erweitert, verliert aber viele ihrer Befugnisse. So kann der Präsident künftig das Land im Alleingang mit Dekreten regieren, die auch ohne Zustimmung des Parlaments Gesetzeskraft haben. Die Nationalversammlung kann zwar Gesetze vorschlagen, der Staatspräsident hat aber die Möglichkeit, sie mit seinem Veto zu blockieren.
Das Amt des Premierministers wird abgeschafft, seine Kompetenzen gehen an den Staatschef über. Er kann eigenmächtig Ministerien einrichten oder abschaffen, Minister berufen oder entlassen. Der Präsident beruft seine Stellvertreter, bestimmt die Rektoren der Universitäten und hat weitgehende Befugnisse bei der Ernennung leitender Richter und Staatsanwälte. Er kann den Notstand ausrufen und das Parlament nach Gutdünken auflösen.
Die Bestimmung der bisherigen Verfassung, wonach das Staatsoberhaupt parteipolitisch neutral zu sein hat, wird gestrichen. Der Präsident kann in Personalunion Staatschef, Regierungschef und Parteivorsitzender sein. Parlaments- und Präsidentenwahlen finden künftig gleichzeitig alle fünf Jahre statt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident auch im Parlament die Mehrheit hat.
Die ersten Wahlen nach dem neuen System sollen im Herbst 2019 stattfinden. Dann laufen Erdogans gegenwärtige Amtszeit und die Legislaturperiode des Parlaments ab. Wenn die Wähler mitspielen, könnte Erdogan bis ins Jahr 2034 durchregieren. Er wäre dann 80.
Warum es in Frankreich und den USA anders ist
Der türkische Staatschef bekäme unter dem neuen System weit mehr Befugnisse als etwa die Präsidenten Frankreichs oder der USA. Der amerikanische Präsident ist zwar auch Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion. Seine Macht wird aber durch ein ausgeprägtes System der Gewaltenteilung begrenzt. Der Kongress als oberstes Gesetzgebungsorgan bildet ein starkes Gegengewicht zum Präsidenten.
Der französische Präsident ist nicht gleichzeitig Regierungschef, auch wenn er traditionell beispielsweise in der Aussenpolitik das Sagen hat. Er hat zwar gegenüber der Regierung eine bedeutende Machtfülle. So ernennt er den Ministerpräsidenten. Der kann allerdings von der Nationalversammlung durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden.
Was Erdogan anstrebt, ist mit den Systemen in den USA und Frankreich nicht vergleichbar, sondern erinnert eher an die Macht mittelasiatischer oder lateinamerikanischer Staatschefs.
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der säkularen Republikanischen Volkspartei, sieht die Türkei auf dem Weg in eine «Katastrophe». Das Parlament habe «seine eigene Autorität preisgegeben und seine Geschichte verraten», klagt Kilicdaroglu. Dieser Fehler könne vom Volk korrigiert werden, sagt Kilicdaroglu: Er sei sich «zu 100 Prozent sicher», dass die Wähler in dem Referendum Nein zu der Verfassungsänderung sagen.
Wie werden die Wähler entscheiden?
Die Meinungsumfragen lassen bisher keine Prognose auf den Ausgang der Volksabstimmung zu. Mal liegen die Befürworter des Präsidialsystems knapp vorn, mal die Gegner. Der Anteil der Unentschiedenen ist immer noch sehr hoch. Je nach Umfrage schwankt er zwischen zehn und 20 Prozent.
Kein Wunder, dass Erdogan und die Regierung jetzt um jede Stimme kämpfen – auch in Deutschland, wo der Staatschef unter den 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken besonders viele Anhänger hat. Bei der Präsidentenwahl 2014 kam Erdogan in Deutschland auf fast 69 Prozent der Stimmen, gegenüber 52,2 Prozent im eigenen Land.
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Und auch in der Schweiz wird geweibelt: Am Sonntag will der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu in Opfikon auftreten. Die Zürcher Regierung äussert «schwere Sicherheitsbedenken» und fordert vom Bund, die Veranstaltung abzusagen. Derweil ersuchen türkische Diplomaten die Schweiz um Asyl, berichtet die NZZ.