Rassisten halten den Brexit für einen Freipass

Seit dem Brexit ist es für Migrantinnen und Migranten ziemlich ungemütlich geworden in Grossbritannien. Neben aller Ungewissheit über ihre Zukunft sehen sie sich auch noch einem erschreckenden Alltagsrassismus ausgesetzt. Eine Übersicht.

Seit dem Brexit ist es für Migrantinnen und Migranten ziemlich ungemütlich geworden in Grossbritannien. Neben aller Ungewissheit über ihre Zukunft sehen sie sich auch noch einem erschreckenden Alltagsrassismus ausgesetzt. Eine Übersicht.

In den sozialen Medien kursiert ein Video. Für viele bringt es die Stimmung in Grossbritannien auf den Punkt. Es zeigt einen rassistischen Übergriff in der Strassenbahn.

Bei dieser Szene handelt es sich um keinen Einzelfall. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter sammeln sich unter den Hashtags #PostRefRacism oder #PostBrexitRacism Dutzende Beispiele, die sich seit dem Brexit-Referendum ereignet haben. Verschiedene Medien haben eine Auswahl von den Ereignissen zusammengetragen. Zum Beispiel:

«Bento»: Briten klagen nach dem Brexit-Referendum über Rassismus. 

«Watson»: Nach dem Brexit: Welle von rassistischen Vorfällen erfasst England

Die rassistischen Attacken richten sich nicht nur gegen Migranten, die nicht weiss sind. Sie richten sich gegen alle Einwanderergruppen. Und sie schockieren im ganzen Land.

«Diese Situation ist genau das, wovor ich am meisten Angst hatte: eine Atmosphäre, in der Leute glauben, es sei in Ordnung, ein fremdenfeindlicher Idiot zu sein», schreibt eine Nutzerin unter einem Bericht über einen Kunden in ihrem Café. Der Mann hatte sich geweigert, seine Bestellung bei einer italienischen Kellnerin aufzugeben, und nach einer englischen Bedienung gefragt.

» Auszug aus zeit.de: «Wir haben euch rausgewählt!»

Zu den besonders Betroffenen zählen Polinnen und Polen – die grösste Einwanderungsgruppe. Sie sind ohnehin verunsichert, wie ihr arbeitsrechtlicher Status sein wird, wenn der Brexit vollzogen ist. Unter solchen Umständen, würde man meinen, kann man sich unmöglich noch wohlfühlen auf der Insel. Die meisten Polen würden dennoch bleiben wollen, sagt ein Korrespondent der polnischen Presseagentur in London. Viele seien schon fünf oder sechs Jahre hier und fühlten sich in Grossbritannien zu Hause. Doch: 

«Wenn sich die Polen in Zukunft vielleicht aber mühsam Arbeitsvisen beschaffen müssen, wenn der Rassismus zunimmt, dann könnte sich das ändern. Vielleicht gehen sie dann zurück oder in ein anderes EU-Land. Und das sollte die Briten beunruhigen: Denn viele Polen, die hier leben, sind jung und hochqualifiziert.»

» Zum ganzen Gespräch bei «Radio SRF».

Ob Rassismus in Grossbritannien nach dem Referendum bloss besonders auffällt oder ob er auch zugenommen hat, lässt sich nicht mit eindeutigen Zahlen beantworten. Die Polizei bestätigt aber eine Zunahme an gemeldeten Fällen. Überraschen würde dies nach der aggressiven Kampagne der Brexit-Befürworter nicht. So wurde unter anderem ein Anti-Migranten-Plakat von Nigel Farage, dem Anführer der fremdenfeindlichen Ukip-Partei, der Polizei gemeldet mit der Klage, es sei rassistisch.

Fremde abwehren, das war ohne Zweifel ein starkes Motiv für die Brexit-Befürworter. Ähnlich wie in der Schweiz, als die Wähler für die SVP-Zuwanderungsinitiative stimmten. Oder in den USA die Republikaner für Donald Trump. In seinem Essay im «Tages-Anzeiger» geht Constantin Seibt diesen Parallelen nach und staunt über die «Sabotage», welche die Wähler an sich selber betreiben:

«Eigentlich haben die USA, England, die Schweiz politisch eine lange Tradition des Pragmatismus – kein Wunder, es sind Handelsnationen. Warum also derartige Risiken? Nur um Ausländer auszuweisen? Normalerweise zündet man keine Bomben im ­Kassenraum. In den Debatten fallen zwei starke Motive auf: Schutz und Rache. Schutz vor Fremden. Und Rache an der Elite. Es ist eine Revolte gegen die unterste und oberste Schicht. Die Vorwürfe gegen sie sind seltsam zwiespältig: Man traut den Einwanderern keine seriöse Arbeit zu – aber die Übernahme des Landes. Und der Elite die Manipulation von allem und das Erreichen von nichts.»

» Zum Essay im «Tages-Anzeiger».

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