Raus mit den Mythen!

Der Nationalrat will künftig auch die Gründung des Bundesstaats von 1848 feiern – und das Bundeshaus entsprechend umdekorieren.

Noch prägt der erfundene Mythos von 1291 das im 19. Jahrhundert erbaute Bundeshaus. Im Nationalrat macht man sich nun Gedanken, wie man neben den Rütli-Eidgenossen jene Politiker würdigen könnte, die 1848 die erste Verfassung schufen. (Bild: ALESSANDRO DELLA VALLE)

Der Nationalrat will künftig auch die Gründung des Bundesstaats von 1848 feiern – und das Bundeshaus entsprechend umdekorieren.

Sie klingen noch Ohren, die flammenden Reden der Mörgelis, Schlüers und Blochers. Der SVP-Tribun beschwor am 1. August in einem Wald irgendwo bei Zürich die Gründungszeit der Schweiz und erinnerte an jene drei aufrechten Eidgenossen, die im Bundesbrief von 1291 den «Willen zur Unabhängigkeit und Selbstbehauptung» manifestiert hätten: «Mit Recht wird dieser Bundesbrief von 1291, dieser Freiheitsbrief, als Geburtsurkunde unseres Landes bezeichnet», heisst es in Blochers Rede, die archetypisch für die Instrumentalisierung des eidgenössischen Gründungsmythos steht.

Seit Jahren berufen sich die Schweizer Konservativen auf historische Unwahrheiten, wenn es darum geht, unser Hier und Jetzt zu deuten. Allerdings sind auch die Linken vor den Mythen nicht gefeit, wie Politikwissenschaftler Michael Hermann diese Woche in einer Kolumne im «Tages-Anzeiger» aufzeigte. Von 48 neu untersuchten 1.-August-Ansprachen eidgenössischer Parlamentarier setzte sich nur eine, jene von SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr, kritisch mit dem Gründungs­mythos von 1291 auseinander. «Die anderen Parlamentarier bedienten sich munter in Schillers Arsenal der Freiheitshelden», schreibt Hermann. Und: «Mehr als alle anderen verankerten ausgerechnet die Linken ihre Reden in der Mythologie der Eidgenossenschaft.»

Widerstand von rechts

Es ist wenig erstaunlich, dass ausgerechnet der Schaffhauser SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr in der neuen Forschungsarbeit als Mythen-Kritiker hervorgehoben wird. Seit Jahren kämpft er dafür, dass die wahre Geburtsstunde der modernen Schweiz, die Gründung des Bundesstaates von 1848, besser im öffentlichen Bewusstsein verankert wird. Ein mühseliger und meist vergeblicher Kampf: Zu stark ist der Gründungsmythos von 1291 mit der täglichen Politik der einen Hälfte des Landes verwoben.

Erfolg für Hans-Jürg Fehr

Umso überraschender ist der Erfolg, den Fehr nun feiern kann. In einem Brief machte er dem Nationalratspräsidenten Hansjörg Walter (SVP) bereits im Mai den Vorschlag, künftig jeweils am 12. September im Nationalrat mit einer Ansprache der Gründung des Bundestaates zu gedenken, weil 1848 an jenem Tag die erste Bundesverfassung der Schweiz beschlossen wurde. «Wer, wenn nicht das nationale Parlament, sollte es sich zur Aufgabe machen, das wichtigste Geschehen in der Geschichte unseres Landes gebührend zu würdigen?», heisst es in Fehrs Brief. Ausserdem schlug der Nationalrat vor, die Gründung des Bundesstaats auch im Bundeshaus selbst fassbar zu machen. Heute erinnere im Bundeshaus sehr vieles an die Alte Eidgenossenschaft, «aber fast nichts an den neuen Bundesstaat».

Der Bevölkerung näherbringen

In der Zwischenzeit hat das Büro des Nationalrats den Brief von Fehr behandelt – und dessen Anliegen ohne Gegenstimme gutgeheissen, wie Hansjörg Walter auf Anfrage der TagesWoche bestätigt. Der Nationalratspräsident wird am 12. September in einer Ansprache der Gründung des Bundesstaats gedenken. Geübt hat Walter dafür bereits am 1. August, als er den Festbesuchern im thurgauischen Sirnach in groben Zügen die Verfassungsdiskussion von 1848 näherbrachte und die damalige Zeit als «wegweisend» für die moderne Schweiz bezeichnete. «Die erste Bundesverfassung bescherte unserem Land grosse Stabilität und eine Lebensqualität, um die uns viele beneiden», sagte er in seiner Rede.
Von der geschichtlichen Bedeutung her sei 1848 eines der wichtigsten Daten der Schweizer Geschichte überhaupt, ergänzt Walter im Gespräch mit der TagesWoche. «Wir wollen das der Bevölkerung etwas näherbringen.»

Wie genau das geschehen soll, ist noch nicht bis ins letzte Detail geklärt. Walter kann sich beispielsweise eine Ausstellung im Berner Käfigturm vorstellen. Für alles Weitere sei danach aber seine Nachfolgerin im Präsidium zuständig.

Im Bundeshaus fassbar machen

Seine designierte Nachfolgerin, die grüne Nationalrätin Maya Graf aus Sissach, macht sich heute schon Gedanken darüber, wie das Gedenken an 1848 institutionalisiert werden könnte. Dabei gehe es auch darum, wie dieses historische Jahr im Bundeshaus, das allzu stark auf 1291 ausgerichtet sei, physisch präsenter werden könnte. Noch gebe es keine konkrete Idee, «aber die Zeit ist reif, 1848 als eigentliche Geburtsstunde der Schweiz bekannter zu machen», sagt Graf. Gerade für die Parlamentarier sei es wichtig, den realen historischen Hintergrund der Gründerzeit zu kennen. «Ohne 1848 würde es uns in dieser Form gar nicht geben.»

Graf kann dabei auch auf die Unterstützung des Ständerats zählen. Zwar gibt es noch keine entsprechende Anfrage im Büro der kleinen Kammer, Ständeratspräsident Hans Altherr (FDP) hält es aber grundsätzlich für eine «gute Idee», der Gründung des Bundesstaats zu gedenken.

Die fortschrittliche Schweiz

Geradezu begeistert von der Idee ist SP-Nationalrat Cédric Wermuth, der bereits vor einem Jahr am 12. September den «Tag der fortschrittlichen Schweiz» ausgerufen hat und mit Gleichgesinnten auch dieses Jahr auf den Spuren der Tagsatzung von Aarau nach Olten wandern will. «Unser Ziel muss sein, dass der 12. September und 1848 eine mindestens so prominente Stellung erhalten wie der National­feiertag am 1. August.» Die Werte der modernen Schweiz – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – seien mit 1848 besser repräsentiert als mit dem Mythos von 1291. «Und das gilt für alle Schweizer – nicht nur die Linken.»

Ob das jene 1.-August-Redner, die sich so gerne auf die drei schwörenden Eidgenossen berufen, ebenfalls so sehen, wird sich noch weisen. Die ersten Signale sind auf jeden Fall nicht so schlecht: Er erwarte keinen Widerstand aus der eigenen Partei, sagt Nationalratspräsident Hansjörg Walter, «unser Fraktionschef Adrian Amstutz hatte keine Einwände».

Selbst Ulrich Schlüer, Chefredaktor der konservativen «Schweizerzeit» und bis 2011 Nationalrat für die SVP, hat nichts dagegen, 1848 zu gedenken. Das sei durchaus gerechtfertigt. «Aber sollte damit der Freiheitsbrief von 1291 relativiert oder abgewertet werden, hätte ich grosse Mühe.»

Feiern wir den richtigen Nationalfeiertag? Müssen wir den 1. August durch den 12. September ersetzen? Was ist wichtiger: das mythische Gründungsdatum von 1291 oder das Jahr, in dem die erste Schweizer Bundesverfassung in Kraft trat? In der Wochendebatte duellieren sich SP-Nationalrat Cédric Wermuth und Alt-SVP-Na­tionalrat Ulrich Schlüer.

Quellen

Die Kolumne von Michael Hermann im «Tages-Anzeiger»

Die 1.-August-Rede von Christoph Blocher

 «Tag der fortschrittlichen Schweiz»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12

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