«Rechtsbruch und Kriminalität gehen vom Staat aus»

Südosteuropa-Experte Dušan Reljić spricht im Interview über die Mazedonien-Krise, einen drohenden Bürgerkrieg und über die «Orbanisierung» der Politik, ein Rechtsrutsch in vielen Balkan-Staaten.

Der Unmut gegen die Regierung ist gross: Ein Protestschild gegen den mazedonischen Ministerpräsidenten Nikola Gruevski.

(Bild: OGNEN TEOFILOVSKI)

Südosteuropa-Experte Dušan Reljić spricht im Interview über die Mazedonien-Krise, einen drohenden Bürgerkrieg und über die «Orbanisierung» der Politik, ein Rechtsrutsch in vielen Balkan-Staaten.

Dušan Reljić leitet derzeit das Brüsseler Büro der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Vorher hat er seit 2003 am Sitz der SWP in Berlin zur EU-Erweiterungspolitik in Südosteuropa geforscht.

Herr Reljić, wie beurteilen Sie den sogenannten «Anti-Terror-Einsatz» der mazedonischen Regierung in Kumanovo vom 9. Mai? Beobachter in Mazedonien glauben, dass die Regierung von Nikola Gruevski die Kämpfe mit den angeblichen Terroristen inszeniert hat, um von der Unzufriedenheit mit ihrer Politik abzulenken.

Dusan Reljic: Die These einer Inszenierung in Kumanovo greift zu kurz. Sicher, anfangs nützte der Vorfall in Kumanovo der Regierung, denn wenn das Vaterland in Gefahr ist, demonstriert man nicht mehr gegen die Regierung. Doch als plötzlich von vielen Toten die Rede war, geriet die Situation ausser Kontrolle. Zu diesem Zeitpunkt geriet auch die Regierung unter Druck, denn in den Augen der Öffentlichkeit hatte sie ihre Inkompetenz bewiesen.

Was spricht denn gegen die These einer Inszenierung?

In der gesamten Region sind nach wie vor sehr viele Waffen im Umlauf. Besonders bei den Albanern gibt es eine lange, starke Tradition, Waffen zu besitzen. Und dann sind da noch die Reste der albanischen paramilitärischen UCK, die sich jetzt ANA nennt. Auch ein paar Getötete gehörten zu den bekannten Gesichtern der UCK/ANA. Man liess ihnen sogar ein halb-offizielles Begräbnis in Kosovo zukommen. Die Grenze zwischen diesen Resten der UCK und der organisierten Kriminalität war nie klar zu erkennen, so wie überhaupt die Grenze zwischen den Regierungen in der Region und der organisierten Kriminalität fliessend ist.

Wie interpretieren Sie den Anti-Terror-Einsatz von Kumanovo?

Es ist sehr schwierig, zu diesem Zeitpunkt etwas Gesichertes zu sagen. Möglicherweise spielen bei dem Vorfall von Kumanovo kriminelle Motive ebenso eine Rolle wie politische. In jedem Fall war eine Gruppe bereit, mit Waffen gegen die Polizei vorzugehen. Das bedeutet, dass die politische Situation in Mazedonien instabil ist, und dass es Gruppen gibt, die das Machtmonopol des Staates immer wieder in Frage stellen.

Nach dem Anti-Terror-Einsatz ist die westliche Gemeinschaft aktiv geworden. Sie hat versucht, zu vermitteln und die Opposition, namentlich die Sozialdemokraten, dazu zu bewegen, ins Parlament zurückzukehren. Seit den Wahlen im April 2014 boykottiert ja die Opposition die Parlamentsarbeit. Wie beurteilen Sie diese Vermittlungsversuche?

Nach allem, was geschehen ist, fällt es der Opposition verständlicherweise sehr schwer, ins Parlament zurückzukehren. Vergessen wir nicht, dass sie schon am 24. Dezember 2012 mit Polizeigewalt aus dem Parlament hinausgeworfen wurde. Um die Situation zu entschärfen, müsste es jetzt eigentlich ein Abkommen geben, das einen Ausweg aus der Institutionenkrise zeigt. Das kann nur mit einer vorgezogenen Wahl unter strengster internationaler Beobachtung geschehen, denn die Wahlen im April vergangenen Jahres waren in sehr grossem Masse manipuliert.

Was verstehen Sie unter «Institutionenkrise» in Mazedonien?

Die Institutionen in Mazedonien tun nicht, was sie sollen, das sieht man ja unter anderem seit dem Abhörskandal, den die Opposition kürzlich aufgedeckt hat. Rechtsbruch und Kriminalität gehen in Mazedonien direkt aus dem Staat hervor.

Steht das Land vor einem Bürgerkrieg?

Das Land ist ethnisch und politisch tief gespalten. Nichtsdestotrotz denke ich, dass es derzeit nicht zu einem Bürgerkrieg kommen wird. Weder für die Mazedonier noch für die Albaner gibt es momentan politische Optionen, die mit Gewalt durchsetzbar wären. Der Vorfall von Kumanovo hat der albanischen Seite in Mazedonien eher geschadet, wie auch der Führung im Kosovo und in Albanien. Denn er hat gezeigt, dass es da noch einen albanischen Untergrund gibt, der direkte Kontakte zu den etablierten albanischen Politikern hat. Auch innerhalb der slawischen Mehrheit wird es derzeit keinen Bürgerkrieg geben.

Warum nicht?

Die Regierungskräfte kontrollieren den Sicherheitsapparat und die Polizei. Die Opposition ist deshalb nicht in der Lage, sich auf ein Kräftemessen einzulassen. Aber die politischen Spannungen werden weiter anhalten. Regierungschef Nikola Gruevski ist angeschlagen, und es kann durchaus sein, dass sich Geheimdienst und Sicherheitsapparat von ihm lossagen, wenn sie meinen, dass der Westen ihn fallen lässt.

Stichwort Rechtsbruch und Kriminalität, die aus dem Staat hervorgehen: Das ist nicht nur in Mazedonien der Fall.

In der gesamten Region erlebt man etwas, was ich als eine «Orbanisierung der politischen Systeme» bezeichne. Was wir in Ungarn sehen, die Methode des Rechtspopulismus, die gibt es auch in Serbien, Montenegro und Mazedonien, bis in Türkei hinein. Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist der Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung in Südosteuropa, auch unter dem Einfluss der Finanzkrise in der EU und des Umstandes, dass der Transformationsprozess nicht die Ergebnisse gebracht hat, die er versprach. Deshalb der immer heftigere Kampf um die Kontrolle über den Staat, um die staatlichen Ressourcen, deshalb immer mehr Rechtsbeugung, immer weniger Demokratie.

Westliche Länder arbeiten mit Regierungen auf dem Westbalkan, die Rechtsbruch und Kriminalität praktizieren, seit langem zusammen. Das Motto scheint zu sein: Stabilität ist alles, demokratische und rechtsstaatliche Werte treten demgegenüber in den Hintergrund.

Der Westen kann sich die Leute, mit denen er zu tun hat, nicht auswählen. Viele Regierungschefs auf dem Westbalkan sind ja weitgehend ordentlich gewählt worden, früher auch Nikola Gruevski.

Sollten westliche Länder die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards künftig mehr betonen?

Natürlich. Aber das wichtigste für Südosteuropa wäre eine beschleunigte Wirtschaftsentwicklung. Die zwei Gebiete mit der grössten Arbeitslosenquote sind Mazedonien und Kosovo. Armut und Perspektivlosigkeit sind die Quellen, aus denen sich die Unzufriedenheit in der Region und letztlich auch eine bestimmte politische Entwicklung speist. Die bisherigen Instrumente des Westens, der Erweiterungspolitik der EU, mit denen man glaubte, die Probleme lösen zu können, reichen nicht aus. Es ist eine wirtschaftliche und diplomatische Offensive notwendig, um Armut und Perspektivlosigkeit zu bekämpfen.

Wie könnte das aussehen? Die EU-Perspektive für die Länder des Westbalkans ist sehr vage. Ist das ein Fehler?

Die Erweiterungspolitik ist in den alten Mitgliedsländern derzeit nicht beliebt. Darauf haben westeuropäische Politiker reagiert, indem sie den Druck von Seiten populistischer Kräfte mit der Aussage abzuwehren versuchen, dass es in den nächsten Jahren keine Erweiterung geben werde und keine weiteren Problemfälle in die EU kämen. Nur: Wenn die EU-Perspektive für die Länder des Westbalkan wegbricht, dann suchen sie nach Alternativen, und dann melden sich auch Alternativen.

Welche sind das?

Islamische Kräfte versuchen, auf dem Westbalkan Fuss zu fassen. Seit Jahren will sich die Türkei dort als regionale Führungsmacht etablieren, und wir haben Russland, das sich ärgert, weil es dort aus seiner jahrhundertealten Rolle weggedrängt wurde. Es gibt viele Möglichkeiten, und viele davon sind unerfreulich. Deshalb werden die EU und der Westen weitaus mehr Aufmerksamkeit, Energie und Ressourcen aufwenden müssen, um die Situation auf dem Westbalkan wieder zu stabilisieren.

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Die Hintergründe der aktuellen Mazedonien-Konflikt lesen Sie in der Zusammenfassung unseres Südosteuropa-Korrespondenten Krsto Lazarević

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