Von der Kurzvisite in Glasgow in Herrn Owens Kommune und von dort zu den Truckern, die zur Kenntnis nehmen, wie Arsenal englischer Meister wird.
Glasgow, viele klobig ungelenke Bauten, zwischendurch britischer Firlefanz, dann Glas und Stahl, auf der anderen Seite selbstbewusste Kolonialmachtklötze, diese breiten Strassen, sehr, sehr baumlos und alles ordentlich und auffallend geputzt. Im Kontrast dazu die gelassenen, bescheidenen Menschen, die bei jeder Gelegenheit so beeindruckend zuvorkommend sind.
Eine grosse Lust überkommt mich, eine Weile hier zu bleiben, durch die Strassen zu schlendern, Museen, Ausstellungen anzuschauen – und ich wanke. Doch eigentlich möchte ich am Samstag in England sein. Entscheide mich für das Marschprogramm; schliesslich wäre Glasgow, nachdem ich es jetzt gesehen habe, mal eine Reise über ein verlängertes Wochenende wert – Highland-Express-Ausflug zu Corrour-Station und Loch Ossian inbegriffen.
Fahre mit dem Zug einige Kilometer aus der Stadt hinaus, so, wie mir Colin und Barry am Sonntag geraten haben. «Don´t walk through these fucking suburbs.» Hatte ich eigentlich auch nicht vor; es ist so, als ob man von einer Frucht die bitteren Teile wegschneide, bevor man sie isst – wenn man die Vororte und Industrieteile so schnöde mit dem Zug auslässt. Vermisse es aber nicht, durch diese Geleise- und Fabriklandschaften zu wandern.
Tändeln in Uniform
In Lanark ist die Schule auf allen Stufen gerade zu Ende, die frühreifen Halbwüchsigen beider Geschlechter tändeln kokett miteinander, wie das halt so ist. Etwas seltsam, wenn sie sich in den Schuluniformen abknutschen und küssen – war vielleicht nicht im Sinne der Erfinder dieser Trachten.
Trüber Himmel, graue Reihen von steinernen Einfamilienhäusern, niedrig alle. Die Füsse mögen nicht auf Touren kommen, die Sinne nicht heiter werden. Die riesigen, mehrstöckigen Bauten mit ihren Steinmauern in der düsteren Schlucht des Clyde unten erschrecken. Mühlen haben da gestanden und Baumwollspinnereien. Eine mächtige Industrie, im 18. Jahrhundert aufgebaut und Robert Owen, grossherziger Kapitalist, hat ein Modell verwirklicht: eine Art Kommune. Wohnungen, Mobiliar hat er den Arbeitern zur Verfügung gestellt, den Kindern eine Schule ermöglicht – ein damals einmaliges Projekt. 2500 Menschen sollen in dieser Schlucht gelebt haben, bis zu zehnt in einem Raum mit Betten, Tisch, Licht, Feuerstelle und einfacher Küche. Eine Frau führt mich durch die Räume, es hat keine Touristen, und sie ist beeindruckt, als sähe sie selbst alles zum ersten Mal.
Viele Museen sind in diesen Gebäuden eingerichtet, Museen über Spinnereien bis zu Müllereien, Souvenir-Shops, ein Restaurant, das mit seinem historisch gekleideten Personal und dem Geruch nach Kantine an Militärküche erinnert. Ein soziales Pionierprojekt des Herrn Owen, eine Kommune, in der nicht alles allen gehörte, sondern alles Herrn Owen, der aber aus sozialer Überzeugung an dem, was er zuviel hatte, die Arbeitenden teilhaben liess – und das vor Marxens Theorien! Und nun, zweihundert Jahre später, reden alle von Herrn Owen und niemand von den Frauen und Männern, die hier mit ihrer täglichen Arbeit den Reichtum schufen. Sie sind namenlos geblieben. Es ist alles schön dar- und ausgestellt, Wandbilder, Wachsfiguren, die Unesco hat New Lanark ins Welterbe aufgenommen und im Reservat am Ufer des Clyde wohnen in verschiedenen Gebäuden noch Leute.
Der bewachte Falke
Gleich oberhalb, wenige hundert Meter nach einem Wasserfall, brütet ein Falke. Überwachungskameras überall. Ein Ornitologe erzählt, das irgendwelche Übeltäter schon mehrmals versucht hätten, die Brutstätten des hier noch heimischen, aber vom Aussterben bedrohten Falken zu plündern. Nun sei das ganze Naturschutzreservat unter Kameraschutz. Und er bat mich, einen Blick durch sein Fernrohr zu werfen: Jenseits des Flusses behütet tatsächlich ein grimmig blickender Falke seine weissen Flaumkügelchen. Vier Junge seien es.
Ein grauer Tag sonst, kühl, ein eisiger Wind, die Landschaft hügelig, die Farmen liegen weit auseinander, die Felder voller Schafe, Rinder, es riecht nach Silofutter, Jauche, Mist – die Bauern düngen ihre Felder. Die zarten, kräftig duftenden Frühlingspflanzen sind hier verschwunden, der Ginster duftet gar nicht mehr, fetter Löwenzahn hat die Primeln vertrieben. Die Strassen geteert, doch kaum Verkehr auf diesen Nebenwegen. Im Moment ist die Reise ein Fortbewegen von Nord nach Süd, möglichst auf direktem Weg. Die berauschende Landschaft der Highlands ist hinter mir und ein bisschen neckt die Frage: Warum will einer zu Fuss von Schottland nach Sizilien gehen?
Weite, häuserlose Hügelzüge, ein zünftiger Schritt – Douglas Water, Roberton, Abington und da kommt ein Bus. Ich steige ein und fahre die paar Meilen bis Crawford.
Nichts von Idylle hier, nur ein schmuckloses Trucker-Hotel. Eine Bar, nur Männer mit je einem Pint, die Wirtin hinter der Theke, rothaarig und an den Fünfzig vorbei, schwerer Busen mit tiefem Ausschnitt, grelles Lachen und immer Mal eine kecke Bewegung, ein Wort, um die Trucker aufzuheitern. Das letzte englische Meisterschaftsspiel läuft, Grossleinwand, die Wirtin würdigt das Gekicke keines Blickes, schickt diesen und jenen hinüber in den Speisesaal, wenn sein Essen parat ist. Dort sitzen sie, die einen schweigend, andere reden – von irgendwoher nach irgendwohin. Ist der Teller leer, kommen sie zurück in die Bar, Arsenal gewinnt 1 : 0 gegen ManU und ist Meister. Die Trucker bezahlen die Zeche, rollen ihr Frotteetuch zusammen, trotten hinüber zum Parkplatz und ziehen die Vorhänge in ihren Fahrerkabinen.
(Crawford, 8. Mai 2002)