Bundesrätin Simonetta Sommaruga sprach, Claudio Abbado dirigierte, das Lucerne Festival Orchestra spielte: Nun ist die 75. Jubiläumsausgabe des Lucerne Festivals eröffnet. Das Festivalmotto «¡Viva la Revolución!» legte Abbado dabei überraschend anders aus.
Alle Sommer wieder ist es ein grosses Hallo, wenn das Lucerne Festival zu viereinhalb Wochen Musikfest anstimmt. Feine Roben bei den Damen und ausgefallene Frisuren bei manchen Herren heischen um Aufmerksamkeit, der See glitzert, die Touristen bestaunen belustigt das Treiben.
Im Inneren des Kultur- und Kongresszentrums Luzern herrscht ein kleines Blitzlichtgewitter auf dem roten Teppich – sogar Schlagersänger Roberto Blanco ist dabei –, draussen, auf dem Inseli, gemütliches Treiben beim Public Viewing. Hier prallen Welten aufeinander – doch eine Revolution ruft vorerst nur einer aus: der Dirigent, Claudio Abbado.
Seid wachsam
Seine Präsenz hier ist schon eine kleine Sensation, überwand doch der 80-jährige eine schwere Krebserkrankung. «Ein Wunder!», hört man in der Pause immer wieder, denn Abbado kehrte nach emotionalen Abschiedskonzerten wieder auf die Bühne zurück, zarter, zerbrechlicher, aber auch kompromissloser.
Das Lucerne Festival Orchestra – «sein» Orchester aus berühmten Solisten und befreundeten Musikern, das er vor zehn Jahren gründete und mit dem er ein ums andere Mal musikalische Höhenflüge absolviert – liegt ihm zu Füssen, wendet den Blick nicht ab von seinem Stab, der gar nicht viel zeigt, ausser: Seid wachsam!
Man weiss aus Gesprächen mit den Musikern, dass es das Aufeinander-Hören ist, das Abbado bei den Proben übt. Er studiert keine vorab auf dem Reissbrett skizzierten Interpretationen ein, um sie dann diktatorisch durchzusetzen, sondern er sensibilisiert für das, was sich dann im Konzert ereignet: Das gemeinsame Musizieren aus dem Moment heraus.
Dabei war gar kein Programm angekündigt, das nach Revolution roch: Die «Tragische Ouvertüre» von Johannes Brahms, dessen Tonsprache zwar von keinem Geringerem als Arnold Schönberg als fortschrittlich, aber nicht als revolutionär bezeichnet wurde. Dann von jenem Arnold Schönberg ein Ausschnitt aus den «Gurre-Liedern», einem Werk also, bei dem der spätere Revolutionär noch einmal seinen Blick zurück, ins spätromantische Komponieren wandte.
Und schliesslich die dritte Sinfonie von Ludwig van Beethoven, die «Eroica», bei der man ein Herauspeitschen des heroischen Tons bei Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis kennt, nicht jedoch bei einem so elegant agierenden Dirigenten wie Claudio Abbado erwartet. Und doch: nach 80 Minuten Musik lag etwas Neues in der Luft.
Standing Ovations
Der Orchestermusiker, der in anderen Formationen sonst so oft in der Masse unterzugehen drohte, wurde hier zum mündigen, selbstverantwortlichen Interpreten.
So geriet Brahms‘ Ouvertüre zu einem ungemein beweglichen, gar heldenhaftem Stück, das in seiner drastischen dynamischen Spannbreite manch sich genüsslich zurücklehnenden Zuhörer in die gerade Sitzhaltung aufzurütteln vermochte. So beeindruckte Schönbergs Gurre-Lied «An die Waldtaube» mit unerhört raschen Klangexplosionen und atemraubend minimalistischem Piano.
Standing Ovations für einen Maestro, dessen Wirken dieses Festival während zehn Jahren geprägt und vorangetrieben hat. Und für eine ganz und gar kammermusikalische Musizierweise, die hoffentlich auch bei anderen grossen Orchestern Schule machen wird.
Das Klassikfestival feiert dieses Jahr sein 75-jähriges Jubiläum unter dem Motto «¡Viva la Revolución!». Unter den 90 Veranstaltungen sind 28 Sinfoniekonzerte mit Spitzenorchestern aus aller Welt – unter anderem dem West-Eastern Divan Orchestra, die Wiener und St. Petersburger Philharmoniker, dem Pittsburgh Symphony Orchestra, und die Sächsische Staatskapelle Dresden. Neben Kinderkonzerten und Soundinstallationen werden auch neue Konzertformate getestet: etwa «40 min», gratis Vorkonzerte, bei denen Festivalkünstler Musik aus allen Epochen spielen und erklären. «Composer-in-residence» ist die in Haifa geborene Klangforscherin Chaya Czernowin, «artiste étoile» die Pianistin Mitsuko Uchida und der Perkussionist Martin Grubinger. Zum Jubiläum ist ein reich illustriertes Buch über Claudio Abbados Lucerne Festival Orchestra und Pierre Boulez‘ Academy erschienen: Das Wunder von Luzern, Henschel, Leipzig 2013. 208 S., ca. 40 Fr. Das Schweizer Fernsehen SRF 1 sendet einen Film zum Jubiläum (25. 8., 23:05 Uhr).