Der Basler Filmemacher Armin Biehler («Chicken mexicaine») hat an der Weltmeisterschaft der Velokuriere in Chicago teilgenommen. Heimgebracht hat er zehn Dollar Preisgeld, neue Erfahrungen und diesen Bericht.
Bilder: Armin Biehler; Ton: Armin Biehler im Gespräch mit Dani Winter
«Take my wheel in the back.» Mit dieser unmissverständlichen Aufforderung schiebt sich Jerry-Lou lächelnd auf ihrem sündhaft teuren Rennvelo an mir vorbei. Ich versuche, ihrem Antritt standzuhalten, und platziere mich im Windschatten. Wir bewegen uns im Strassengewirr nördlich des O’Hare-Flughafens von Chicago – raus aus der Stadt. Auf meinen Ruf, das Tempo sei zu schnell, kommt die lapidare Antwort «Trust me» zurück.
Es folgen zwei Stunden Raserei, wobei ich am Hinterrad der Unbekannten klebe, sämtliches Denken verdunstet in den Beinen. Schliesslich bremsen wir am Pier ab. «That’s it!», sagt Jerry-Lou. Einen Moment lang meine ich, an der Atlantikküste in Nordfrankreich gelandet zu sein. Ein riesiger Sandstrand führt zum blaugrünen Wasser: Wellen kräuseln den Lake Michigan, den fünftgrössten Süsswassersee der Welt.
Über Seen ans andere Ufer schauen? Das wollen nur Europäer, das geht hier nicht. Meine Lotsin schmunzelt und macht sich auf den Rückweg. Ich fahre weiter in den Norden.
On his way. «Take care – ride safe», sagt sie und ich wundere mich über ihren melancholischen, mit konkreter Sorge unterlegten Gesichtsausdruck. Dieser Mischung werde ich immer wieder begegnen, bis hin zum aufsteigenden Augenwasser. Letzteres beim Vater in der Harley-Davidson fahrenden Familie. Sein «take care» beantworte ich mit einem unmittelbaren «yeah, ride safe», was er unmittelbar mit einem «yeah, man, ride safe» beschliesst, wobei er sich mit der flachen Hand ans Herz fast. Die Blicke treffen sich, dann aufgesessen und go west!
Man trifft sich nicht zweimal. Im Abschied des Mannes manifestiert sich der Respekt vor dem Unterwegssein. Das heisst hier Begegnung und hat keinen Makel. «On his own way»-sein genügt sich selber und verlangt nicht nach einem konkreten Ziel.
Ich radle seit Stunden auf einer Überlandstrasse geradeaus, mittlerweile auf der Ostseite des Lake Michigan. Das Hinterland dünn besiedelt, alle halbe Stunde ein Auto, die Sicht ist weit. In der Ferne, wo die Luft flimmert, sehe ich, wie ein Torkelnder in den Strassengraben fällt. Ich hole ihm einen Stock aus dem Wald, damit er sich aufrappeln kann. Ein Tramp. Wir sammeln seine verstreuten Pfandflaschen zusammen. Er ist vom Alkohol gezeichnet, sein Körper mit Tätowierungen geschmückt. Ich frage, ob ich ihn fotografieren darf. Er vergewissert sich, dass ich kein Cop bin, und stimmt zu. Beim Abschied fragt er, ob ich an Gott glaube. Meine Antwort ist ausweichend. «I believe in the Lord, every day!», antwortet er, streckt mir die Zunge raus und torkelt davon.
Armin – Amen – Aaron! Ich sitze auf und habe noch gute 60 km vor mir bis zum Campingplatz. Im Tritt der Beine gehen die Gedanken mit. Warum hat mich der Tramp nicht nach meinem Namen gefragt? Gewöhnlich ist das «by the way, what’s your name?» fester Bestandteil jeder Begegnung und ich ernte immer ein ungläubiges Stauen: Armin! Nach einigen misslungenen Versuchen der Aussprache meines Namens, besinnt sich das Gegenüber auf ein kräftiges pastorales «Armen!» strahlt und legt mir die Hand auf die Schulter.
Eben gerade wieder hier auf dem Camping im Touristenörtchen «Silver Lake State Park» bekomm ich diesen Kirchennamen verpasst. Das geht zu weit. Für diesen «running gag» eigne ich mich nicht. Gedankenverloren drehe ich das im Secondhand Shop gekaufte Zippo-Feuerzeug in der Hand, da springt mir die Gravur ins Auge: Aaron. Ja, Aaron! Ganz einfach, ab jetzt bist du Aaron. Die Probe aufs Exempel gelingt nach zwei Fehlversuchen. Einziger Nachteil, auf den Zuruf Aaron, reagiere ich nicht immer so prompt. So ansteckend ist der Pragmatismus hier.
National Health & Private Care. Einen Tag später stelle ich mein Zelt weiter nördlich im Manistee National Forest auf. Die Lebensmittel an einen Ast gehängt, damit die Tiere sie nachts nicht fressen. Die nächsten Tage bin ich allein und schlafe meistens am Strand. Der Sternenhimmel ist unendlich prall und das Licht sehr klar, nordisch für unsere Augen. Meine Seele baumelt ganz unangestrengt. In den nächsten Tagen auf dem Rückweg nach Chicago schlafe ich auf dem Privatstrand einer Villa. Morgens weckt mich der Besitzer mit einer Tasse Kaffee und wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Er sei für «Obamas Health Care», aber die Eigeninitiative dürfe nicht verloren gehen. Dann, frisch rasiert, Einfahrt in der grossen Stadt: Chicago.
Velokuriere aus aller Welt. Nach und nach kommen wir in der Stadt an. Fahrradkuriere aus allen Himmelsrichtungen der USA, aus Kanada, Australien, Japan und Europa. Bis Ende Woche werden es rund 25 Frauen und 250 Männer sein. Sehen, saufen, siegen. Wobei der Schwerpunkt individuell ganz unterschiedlich gelegt wird.
Ich fahre erst mal ein paar Stunden alleine durch die Stadt, möchte den Verkehr lesen. Es ist so wie hundertmal im Film gesehen, die Stadtschluchten beeindrucken ungemein. Dies physisch auf dem Rad zu erfahren, mit dem leichten Stadtwind am Körper bei 37°C, zieht einen in den Rausch. Fahre schön auf Lücke, setze den Sprint zwischen die Fahrzeuge, ohne auf die Farben der Ampeln zu achten. Die Autos verlangsamen ihre Fahrt, lassen von sich aus dem Schwächeren Vortritt. Der Verkehr fliesst bei seiner ganzen Dichte kommunikativ statt rechthaberisch wie bei uns.
Make your money! Acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt stelle ich mein Zelt bei Verner im kleinen Garten auf. Er gehört zu den Organisatoren der Cycle Messenger World Championship (CMWC). Auf dem Sofa in der Stube liegen schon François und Marc aus Montreal. Wir drängen zum Aufbruch, die Track-Rennen sind angesagt. Auf dem Weg zum knapp 50 Kilometer entfernten Velodrom heizen sich rund 50 Fahrer gegenseitig ein. Wie ein Fischschwarm bewegen wir uns stracks Richtung Norden. Die offene Bahn liegt wunderschön von Bäumen umgeben. Das Oval hat einen glatten Betonüberzug, und die Kurven sind mässig steil.
Da viele Kuriere einen Starrlauf fahren, also ein Rad, welches seine Wurzeln im Bahnsport hat, erlebt dieser ein Revival. Wir schrauben die Bremsen ab. «Let’s go – make your money!», ruft Verner. Ich denke, er macht einen Witz.
Gestartet wird in drei Gruppen. Nachdem ich sehe, dass die Amis in der stärksten Kategorie am Unterschenkel so viele Muskeln haben wie ich am Oberschenkel, schreibe ich mich in der dritten und schwächsten Stärkeklasse ein. Ich komme von Rennen zu Rennen weiter und erreiche im Final den dritten Rang. Yeah! Staune nicht schlecht, als ich Verner die Dollarnoten zählen sehe und er mir lächelnd mit der Zigarette im Mundwinkel ein Couvert mit der Bemerkung «That’s Chicago» überreicht. Zehn Dollar Preisgeld!
«Very queer» – «Ä Gugge!» Nach getaner Arbeit nehmen viele Jungs und Mädels den Zug zurück in die Stadt. Die Puristen radeln. Johannes aus Berlin und ich zollen unterwegs dem heraufziehenden Hungerast Tribut. Wir schlagen uns erst mal den Magen voll. Johannes kauft ein. Erdnussbutter, Bananen und Brot. Er ist Veganer. Ich bin nicht wählerisch.
Am abendlichen Treffpunkt empfangen uns die Posaunenstösse von «Environmental Encroachment». Ein gutes Dutzend Frauen und Männer an ihren Tubas, Posaunen und Schlagwerkzeugen. Gekleidet in Badeoutfit, Bikini und dekoriert mit allerlei Tüll und Boafedern. «Very queer», sagen die einen und wippen verlegen mit dem Fuss. «Ä Gugge», brüllt «Strom», der zweite Basler vor Ort. Wir liegen uns in den Armen und singen selig «Z’Basel an mym Rhy» – was im allgemeinen Getöse nicht weiter auffällt.
Später diskutiere ich mit Joséphine aus Lausanne über die Gefühllosigkeit der Amerikaner. Das berührt mich inhaltlich weniger, aber da ich gern Französisch rede, halte ich den Ball. Während nun die Schamanen mit Tuba und Pauke zur Höchstform auflaufen, beginnt auf der Tanzfläche eine Masse aus Dutzenden von nassgeschwitzten Leibern zu brodeln. Die Nacht wird lang.
Main Race. Am nächsten Tag erscheinen am Hauptrennen drei Kategorien von Kurieren. Erst die, die direkt von der Tanzfläche kommen, immer noch prächtig gelaunt. Dann die Verkaterten, die nach ein paar Stunden Schlaf versuchen, die Peilung zu bekommen. Und schliesslich die, die man vorher weniger zu Gesicht bekommen hat: die Wettkämpfer. Der Parcours ist abgesteckt und dem Arbeitsalltag nachempfunden. Es gilt, in zwei Stunden möglichst viele Lieferungen zu den elf verschiedenen Posten zu transportieren. Es macht richtig Spass, auf diesem riesigen Parkplatz vor der Kulisse der Wolkenkratzer die Kurven zu ziehen und in den Geraden zu beschleunigen.
Grosszügig sporne ich Joséphine beim Überholen mit «allez Lausanne!» an. Unter dem Strich sieht die Rechnung ganz anders aus: Joséphine wird Weltmeisterin und Dreizehnte in der Gesamtwertung. Ich lande auf Platz 206. Shit happens, da hab ich wohl was falsch gemacht. Am nächsten Tag packe ich mein Bündel. Verner kann nur noch ein leises «Take care» hauchen, seine Stimme ist der Organisation zum Opfer gefallen. Wir umarmen uns.
Grow salad – not guns. Die letzte Etappe meiner Reise führt nach Detroit. Das Fahrrad zerlegt im Railbag, sitze ich im Zug. Sechs Stunden dauert die gemütliche Fahrt für etwas über 400 Kilometer. Ein Tagtraum nimmt mich in Beschlag: Die Gang der Velokuriere dreht in Tokio ihr Ding, Überfall auf einen Geldtransporter. In Chicago erbeuten sie Einnahmen eines Drogendealers, in Basel schlagen sie auf ihren Rädern in der Uhren- und Schmuckmesse zu und in Helsinki erleichtern sie die Rolling Stones um ihre Konzerteinnahmen. Bis im finalen Tanz auf dem Asphalt meine Heldin Moa im Wettstreit mit der Polizei stirbt. Wiedergeboren in Schwarzweiss siedelt sie in Detroit und fährt auf dem Cargobike «Urban farming»-Produkte aus. Sie hat ein Haus, einen Mann und sie kümmern sich liebevoll um ihre zwei Kinder. Ist das mein Film «Ride on → #151»? Noch bevor ich im Traum erfahre, wie die Geldgeber von der internationalen Produktion zu überzeugen sind, hält der Zug in Detroit.
Das ist sie nun die ärmste Stadt der USA, in den letzen 30 Jahren die Hälfte der Bevölkerung verloren. Der Grund liegt im Kollaps der hiesigen Autoindustrie. Heute ist Detroit schwarz. 90 Prozent der Einwohner sind Afroamerikaner. Mit den bekannten Bilder des Fotobandes «The Ruins of Detroit» im Kopf starte ich vorsichtig meine Rundfahrt.
Der erste Eindruck steht dem Verfall entgegen. Alles wirkt sehr grün hier. Bis mir auffällt, dass in den überwuchernden Flächen die oft verkohlten Reste der verfallenen Häuser stehen. Dazwischen liegt ein kleiner bunter Gemüsegarten, ein handgemaltes Schild weist auf ein «urban farming Projekt» einer Schulklasse hin. Vor der Uni treffe ich auf einen Gemüsemarkt mit einigen Ständen. Freudig erklärt mir die Projektleiterin alles. Säen, pflegen, ernten. Hier können die Jugendlichen ihre biologischen Waren selber verkaufen, sie kämen so der Erde nah und würden weniger Sinn im Spielen mit Schusswaffen sehen. Ich kaufe sofort ein Glas Honig «Grown-in-Detroit Wildflower Honey».
Heidelberg project – art, energy and community. Im Gegensatz zu Chicago sind keine Fahrradfahrer auf der Strasse. Die Ausnahme macht Hamilton, ein junger Künstler aus New York. Wir treffen uns an der Ampel. Er interessiert sich sehr für meine Reise. Später fahren wir gemeinsam zu seinem Atelier im «Russellkomplex». Ein riesiges Industriegelände, in dem sich eine über 150-köpfige Künstlerkolonie gebildet hat. Jeder hat Platz im Überfluss. Nur weiss davon leider niemand und deshalb werden die Arbeiten zu wenig zur Kenntnis genommen, relativiert Hamilton meine Begeisterung.
Er schickt mich ins Heidelbergprojekt. So heisst die Strasse im Nordwesten der Stadt, wo ein Künstler seit 25 Jahren einen Objektpark wachsen lässt. Der Kern der Arbeit besteht darin, Material aus den umliegenden Häuserruinen zu bearbeiten und neu zu gruppieren. Ich sitze auf einer Bank, neben mir ein Block verschmolzener VHS-Kassetten. Sicher, dem hinterfragenden europäischen Blick wirkt manches sehr äusserlich. Aber was ist die Alternative? Der triste Verfall, soziales Elend. Dagegen kommt hier eine unheimliche Stärke auf, die meine nörglerischen Gedanken ratzfatz wegwischen.
Anwohner schwärmen auf der Veranda sitzend von Tyree Guyton als sei er ein Basketballstar. Sie scheiben mir seinen Namen auf, der sei sogar nach Europa eingeladen. Dahin bin ich auf dem Weg zurück. Verspreche mir selbst, ein Stück von der Unbeschwertheit und Grösse in die Enge des Alltags hinüberzuretten. Will versuchen «on my way» zu bleiben und fahre am Nachmittag wieder meine erste Schicht in der alten Stadt. Beim Auspacken gehe ich dem Künstler aus Detroit nach und glaub es kaum. Tyree Guyton ist dieses Jahr artist in residency im Laurenz-Haus in Basel.
Welcome back home!
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12