Am 28. Juni 1712 kam Jean-Jacques Rousseau in Genf zur Welt. Anlässlich seines 300. Geburtstags erinnern wir in einer fünfteiligen Serie an bemerkenswerte Schriften des Philosophen und Pädagogen. Zum Auftakt beleuchten wir seine ethisch-sozialen Kritik am Wissenschaftsfortschritt: «Wissenschaften und Künste haben ihre Geburt unseren Lastern zu verdanken.»
«Wissenschaften und Künste haben ihre Geburt unseren Lastern zu verdanken»
Ein scheinbar gewöhnlicher Tag im Jahr 1749 sollte ein Wendepunkt in Jean-Jacques Rousseaus Leben und Denken werden. Der 37-jährige Komponist und Pädagoge machte sich in Paris auf zu einem seiner zahlreichen Spaziergänge, mit dem Ziel, seinen Freund Diderot im Gefängnis von Vincennes zu besuchen. Schon eine Zeit lang unterwegs, fasste er den Entschluss, sich kurz hinzusetzen und einen Blick in den Mercure de France zu werfen. Das sollte sich als einschneidendes Erlebnis erweisen, stiess er darin doch auf die Ausschreibung einer Preisfrage der Akademie der Wissenschaften von Dijon. In seinen Bekenntnissen beschreibt Rousseau diesen Moment in dem für ihn üblichen Pathos: «Im Augenblick, da ich dies las, sah ich eine andre Welt, und ich wurde ein andrer Mensch. […] All mein übriges Leben und meine Leiden waren die unvermeidliche Folge dieses Augenblicks der Verwirrung.»
Was er da gelesen hatte? Eine Frage, die die Akademie zur Diskussion stellte: Ob die Entwicklung der Wissenschaften und Künste zu einer Läuterung der Sitten beigetragen habe. Rousseaus Antwort – die Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste – war ebenso einfach wie unmissverständlich: Nein, im Gegenteil.
Die Geburtsstunde des Kulturpessimismus
Die Abhandlung wurde von der Akademie prämiert und der Genfer von der Philosophie in den Bann gezogen. Ausgangspunkt seines Denkens ist ein bemerkenswertes Stück modernen Kulturpessimismus’, man muss sogar sagen: dessen Geburtsstunde. Mitten im Zeitalter der Aufklärung, das von Fortschrittsoptimismus geprägt war, in dem man (zumindest dem Selbstverständnis nach) aus dem schattigen Wald des Mittelalters zur Lichtung der Vernunft gefunden hatte, tritt Rousseau dem Zeitgeist entgegen. Seine Kritik gilt aber nicht den Wissenschaften als solchen und genauso wenig redet er einem «retour à la nature» – ein entgegen häufiger Behauptungen nicht von Rousseau stammender Ausspruch – das Wort. Entscheidend ist vielmehr, dass er die Wissenschaften nicht an ihrem eigenen Massstab – Erkenntnis, Wissen, Wahrheit, Problemlösung – misst, sondern die ethisch-soziale Dimension des wissenschaftlichen Fortschritts in den Blick nimmt. In diesem Lichte ist das Zeugnis, das er den Wissenschaften ausstellt, nicht ohne Makel: Wissenschaftlicher Fortschritt geht einher mit der Ausbildung von Luxus, Konsum und Schein, Bedürfnisse werden geschaffen und die Menschen von ihnen abhängig.
Mann gegen Mann
Diese Diagnose ist durchaus nicht unproblematisch: Neben den historischen Vereinfachungen können uns auch die spartanischen Tugenden, die Forderungen nach Tapferkeit und Stärke, nacktem Kampf von Mann gegen Mann, die Rousseau als positive Folie dem Sittenzerfall gegenüberstellt, heute nicht mehr überzeugen. Dennoch gilt es, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Rousseaus Grundgedanke bleibt so wertvoll wie bedenkenswert. Er hebt nämlich hervor, dass Wissenschaft nicht «neutral» ist und in Form von unscheinbaren Büchern, die manchmal mehr, manchmal weniger gelesen werden, ihr Dasein fristet, sondern immer auch Gesellschaft produziert – ob sie das nun will oder nicht.
Wissenschaftliche Erkenntnisse wirken als ein Produkt der Gesellschaft über kurz oder lang auf die Gesellschaft zurück, wenn sie nicht schon im Grunde dafür konzipiert sind (wie das etwa bei den Ingenieurwissenschaften der Fall ist). Eingängige Beispiele sind etwa Veränderung unserer Kommunikations- und Lebensabläufe durch E-Mails, Social Networking und Smartphones, ja eigentlich unser durchgängiges Umgebensein von technischen Apparaturen, die unseren Alltag bestimmen.
Wenn man sich diese Verbindung vor Augen führt, dann wird – und das wäre die Pointe der Rousseauschen Wissenschaftskritik – ein moralischer Massstab nicht mehr von aussen an die Wissenschaften herangetragen, sondern ist selbst ein legitimes Bewertungskriterium für diese. Diese Erkenntnis wirkt teilweise bis heute fort, werden in der Schweiz doch Forschungsanträge von einer Ethikkommission beurteilt. Rousseau kritisiert also nicht die Wissenschaften per se, sondern deren abgehobenes Selbstverständnis und holt sie in die Gesellschaft zurück; nur so kann er auch fordern, dass die Wissenschaften «mit vereinten Kräften an der Glückseligkeit des Menschengeschlechts arbeiten.»
Literatur:
- Rousseau, Jean-Jacques, Discours sur les sciences et les arts / Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste, französisch/deutsch, Stuttgart: Reclam 2012.
- Starobinski, Jean, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt/M.: Fischer 2003.
- Als Einführung empfiehlt sich: Sturma, Dieter, Jean-Jacques Rousseau, München: Beck 2001.