Rudolf Minsch: «Staatliche Kontingente sind ungerecht»

Durch die mögliche Kontingentierung bei der Zuwanderung drohe eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom Economiesuisse. Er befürwortet ein Gebührenmodell: Wer zahlt, bekommt ausländische Arbeitskräfte.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Durch die mögliche Kontingentierung bei der Zuwanderung drohe eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom Economiesuisse. Er befürwortet ein Gebührenmodell: Wer zahlt, bekommt ausländische Arbeitskräfte.

Herr Minsch, die Politik ringt um eine gangbare Lösung bei der Umsetzung der MEI – aber wie wir am Metrobasel-Podiumsgespräch zur Europapolitik gehört haben, scheint es gar keine wirkliche Lösung zu geben, egal, auf welchen Text man sich da letztlich einigen sollte.

Der Artikel 121a zur Masseneinwanderungs-Initiative enthält Begriffe, die heute – zumindest so, wie wir das bisher begreifen – mit der Personenfreizügigkeit nicht kompatibel sind. Wir gehen davon aus, dass die Höchstzahlen und Kontingente im Sinne der 80er-Jahre gedacht sind. Das heisst, dass wir eine fixe Zahl festlegen und dann ausmachen, wer ein solches Kontingent braucht. Ein solches System wäre mit dem Freizügigkeitsabkommen nicht vereinbar.

Hätte denn der Wegfall der Bilateralen schwere Konsequenzen für die Schweiz? 

Wenn die bilateralen Verträge gekündigt würden, dann wären die wirtschaftlichen Konsequenzen erheblich. Wir haben eigene Berechnungen angestellt und kamen auf ähnliche Zahlen wie das Seco: Die Schweiz hat heute ein vier bis fünf Prozent höheres BIP mit den Bilateralen.

Aber das BIP könnte ja bei einer Auflösung weit mehr abstürzen als nur vier bis fünf Prozent – das wäre ein Schock, die Kettenreaktion kaum vorherzusagen.

Es könnte vorübergehend tatsächlich mehr sein. Vieles hängt aber davon ab, wie die Politik reagiert. Deshalb sind die wirtschaftlichen Auswirkungen auch so schwierig zu prognostizieren. Unter Umständen wird eine Schmerzgrenze überschritten und die Schweiz packt gescheite Reformen an. Das haben wir in den 90er-Jahren gesehen, als im Kartellrecht und mit einer Teilliberalisierung gewisser Segmente eine Stimulierung des Marktes erreicht wurde. Aber dass der erste Effekt grundsätzlich negativ ist und die wirtschaftliche Entwicklung über einige Jahre negativ bleiben wird, darin sind sich eigentlich alle Ökonomen einig.

«Vor allem in den SVP-Stammlanden war die Mobilisierung gegen die MEI enorm schwierig.»

Ein spannendes Thema, das bei der Podiumsdiskussion gestreift wurde, war nicht nur ein Wirtschaftliches, sondern – in Ermangelung eines besseren Wortes – ein Emotionales, das beim Thema Schweiz–EU eine grosse Rolle spielt. Warum ist es Economiesuisse nicht gelungen, die Leute davon zu überzeugen, dass die MEI eher keine so gute Idee ist?

Die Mobilisierung – und wir haben damals versucht, die Wirtschaft und die Politik aufzurütteln – war unzureichend. Wir wollten, dass Leute persönlich hinstehen und für die Sache kämpfen. Doch die ersten Umfrageresultate liessen ein klares Nein zur Initiative erwarten, sodass viele sich zurücklehnten. Zudem wollte man sich nicht zu stark exponieren und womöglich noch einen Kunden oder Lieferanten brüskieren. Vor allem in den SVP-Stammlanden war die Mobilisierung enorm schwierig. Rückblickend hätten wir natürlich trotzdem einiges anders gemacht.

Angesichts der Tatsache, dass es laut der Wirtschaft um viel geht: Hätte man nicht alles geben müssen, egal wie komfortabel oder wie knapp die Umfrageergebnisse waren?

Als Dachverband kann man noch so laut rufen: «So, jetzt machen wir etwas!» Letztlich sind wir auf die einzelnen Personen und deren Engagement angewiesen. Und dieses ist letztlich freiwillig. 

Hat da Economiesuisse die Unterstützung der KMU verloren?

Bei diesem Thema teilweise schon, insbesondere in den ländlichen Gegenden. Aber es fehlten uns nicht nur die KMU: Bei der MEI haben wir die Leute insofern verloren, als sich zu wenige für ein Nein engagierten. Auch die Politik setzte sich nicht dezidiert gegen die Initiative ein. Das war bei der Ecopop-Abstimmung oder kürzlich bei der Durchsetzungsinitiative anders, da war ein ganz anderes Klima. Es standen viele Leute hin, es wurde eine Bewegung spürbar. Aber bei der MEI war es so: Die Bevölkerung wollte über die Zuwanderung reden, andere Argumente fanden kein Gehör. Selbst Medien, die sich traditionell für den bilateralen Weg einsetzen, waren im Vorfeld der Abstimmung voll mit Themen wie Wohnungsknappheit, Infrastrukturproblemen, Zahlen zur Zuwanderung, Ausländerkriminalität. Migration war plötzlich das Thema, nichts anderes interessierte mehr. Kurz nach der Abstimmung, als die Konsequenzen mit dem Wegfall der ersten Verträge deutlich wurden, wären wohl viele gerne auf ihren Entscheid zurückgekommen.

Proteststimmende?

Ja, solche, die gemerkt haben: Es gilt ernst, wir haben nicht nur ein Zeichen gesetzt für eine Initiative, die ohnehin abgelehnt wird. Oder solche, die plötzlich die ökonomischen und politischen Folgen sahen: dass es schwierig wird und dass die EU nicht auf irgendwelche Extratouren Rücksicht nimmt. So, wie wir das während der Nein-Kampagne stets betont haben. 

Betrachtet man die Verteilung der Stimmen, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass für die Städte klar ist, dass es ohne die EU nicht geht – in den ländlicheren Regionen und in der Agglomeration sah es hingegen anders aus. Gibt Ihnen das als Economiesuisse-Chefökonom nicht zu denken – zumal die «Kleinen» ohne die «Grossen» kaum überleben könnten, die Agglomerationen nicht ohne die Städte?

Dieses gegeneinander Ausspielen halte ich für sehr schädlich. Grosse und kleine Unternehmen pflegen in der Schweiz ein sehr erfolgreiches Zusammenspiel. Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir viele multinationale Konzerne – und das hilft auch vielen KMU, die als Zulieferer eine Internationalisierungsstrategie verfolgen können. Ich sehe darin nur Vorteile. Aber «gross» ist eben grundsätzlich suspekt und «klein» ist nett. Das sorgt leider immer wieder für Kommunikationsschwierigkeiten.




«Das Gebührenmodell ist ein Recht, das alle gleich betrifft, während eine staatliche Kontingentierung Ungerechtigkeit schafft.» (Bild: Alexander Preobrajenski)

An der Podiumsdiskussion wurde auch kurz das Thema der Einwanderungssteuerung per Gebühren erwähnt: Wer zahlt, darf Einwanderer haben. Befürworten Sie diese Idee?

Meine persönliche Meinung als Ökonom ist die, dass der Gebührenansatz dem Kontingentansatz eindeutig überlegen ist, weil er keine versteckten Kosten enthält. Der Arbeitgeber kann, wenn er die Gebühren bezahlt, schon am nächsten Tag den Arbeitnehmer anstellen. Das ist gerade dann, wenn es um international begehrte Spezialisten geht, matchentscheidend. Ein gut ausgebildeter Deutscher zum Beispiel hat viele Länder zur Auswahl. Wenn er aufgrund von Kontingenten ein halbes Jahr auf die Einreise in die Schweiz warten muss, dann geht er woanders hin. 

Damit schalten Sie einfach den Staat aus bei der Ein- und Auswanderung.

Ja, das ist genau das Ziel. Das ist ordnungspolitisch richtig: Denn wenn man es nicht so macht, spielt der Staat eine aktive Rolle und entscheidet, ob Unternehmen A Leute bekommt und Unternehmen B nicht. Der Staat macht dann direkte Wirtschaftspolitik.

Der Staat würde einfach geltendes Recht umsetzen: das der Kontingente. Steht das Recht in dieser Frage nicht über allem?

Es ist ein Recht, das alle gleich betrifft, während eine staatliche Kontingentierung Ungerechtigkeit schafft.

Aber schafft man mit dem Gebührenansatz nicht eine neue Ungerechtigkeit, indem Firmen begünstigt werden, die schneller bezahlen? 

Die Gebühr schliesst nur diejenigen aus, die nicht bereit sind, die Gebühr zu bezahlen. Die Firmen und auch staatliche Organisationen müssen sich überlegen, ob es sich lohnt, einen Ausländer anzustellen. Es ist eine vernünftige Lösung, weil alle gleich behandelt werden. Bei einer Kontingentslösung hingegen spielt es eine grosse Rolle, wie gut man mit der Politik vernetzt ist. Denken Sie an ein Start-up: Gehen die Kontingente zur Neige, hat ein Jungunternehmer gegenüber etablierten Konkurrenten oder staatlichen Institutionen keine Chance. 

«Es ist gescheiter, eine Gebühr zu entrichten, als von einer beamtlichen Willkür abhängig zu sein.»

Aber nur, wenn es knapp wird.

Eine Beschränkung der Zuwanderung führt zu Knappheit, da kommt es zwangsläufig zu Verteilkämpfen. Doch das scheint in weiten Teilen der Wirtschaft und der Bevölkerung noch nicht angekommen zu sein. Verteilkämpfe sind immer ungerecht und hässlich. 

Besteht beim Bezahlmodell nicht auch die Gefahr, dass es genauso ungerecht und hässlich herauskommt wie eine staatlich gesteuerte Lösung – weil viele KMUs oder von Ausländern abhängige Sektoren wie das Gesundheitswesen oder die Landwirtschaft aussen vor bleiben werden?

Es ist meines Erachtens gescheiter, eine Gebühr zu entrichten, als von einer beamtlichen Willkür abhängig zu sein. Und es gibt verschiedene mögliche Modelle: Man könnte beispielsweise einen Monatslohn-orientierten Ansatz nehmen: Bei einem tiefen Monatslohn von 4000 Franken würde die Gebühr entsprechend tief sein, z.B. 4000 Franken. Bei einem Monatslohn von 20’000 Franken müssten entsprechend 20’000 Franken bezahlt werden. So gäbe es keine Benachteiligung einer Branche, eines Kantons oder einer Region. Niemand würde also benachteiligt und niemand bevorzugt. Darum wäre es wichtig, solche Ideen nun offen zu diskutieren.

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