Schicksalstage in der Ukraine – An der Bruchlinie zwischen West und Ost

Der Konflikt um die Krim dreht sich um die geopolitsche Ausrichtung der Ukraine. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Land schon seit Langem um seinen Platz in der Völkergemeinschaft ringt.

Viele Ukrainer zieht es in die EU. Dabei hat Russland grösseres Interesse an engen Beziehungen als der Westen. (Bild: Reuters/VASILY FEDOSENKO)

Die Ukraine ringt um ihre Zukunft – im Innern aber auch mit der Grossmacht Russland. Die Geschichte des Landes ist geprägt vom Kampf um Selbstbestimmung und Bündnispartner.

Geschichte ist wieder einmal überraschend in Bewegung geraten und zeigt zugleich ihre Beharrungsmomente. Vergangenheit wirkt nach und steht als Steinbruch zur Verfügung. Was aber zählt, das sind die Zukunftsperspektiven der Gegenwart. Im Innern des Landes läuft ein Richtungskampf zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Orientierungen. Die eine sucht neue Ufer im Westen, die andere alte Verbundenheit mit dem Osten. Die westlich und östlich der Ukraine gelegenen Grössen wollen jedoch dem zerrissenen Land nicht einfach nur helfen, sondern verfolgen in diesem Zwischengebiet selbstverständlich auch eigene Interessen.

Man darf sich daran erinnern, dass das altostslawische ukraina «Grenzgebiet», «Militärgrenze» bedeutet, was dem westlichen Begriff der «Mark» entspricht. Aus ukrainischer Position könnten gute Verbindungen mit beiden Seiten als der ideale Zustand verstanden werden, der den Bedürfnissen des Landes am ehesten entspricht. Da es aber nicht nur um punktuelle-partielle Beziehungen geht, sondern um Fragen der grundlegenden Gesamtordnung, ist so etwas wie eine überlappende Doppelzugehörigkeit schwer möglich.

Auszug aus dem «Europäischen Haus»

Für Russland gehörte die Ukraine sozusagen schon immer zu seiner Domäne, Russland versteht sich historisch als Weiterführung des alten Zentrums des Kiewer Rus des 9. Jahrhunderts. Und weiterhin nimmt die Ukraine im schwächer gewordenen Satellitenkranz der Nachbarstaaten den allerwichtigsten Platz ein. Was in den vergangenen Jahren nur als Sicherheitsgürtel gesehen wurde, soll nach Putins Vorstellung inskünftig auch zu der auf 2015 geplanten Eurasischen Union, einer Art Gegenstück zur EU, gehören.

In Russland selbst bestehen ebenfalls die gegenläufigen Orientierungen. Wie die Basler Dissertation von Martin Weber (2013) zeigt, wurde die europhile Orientierung der 1990er-Jahre in den letzten Jahren von russozentrischem Denken und eurasischer Geopolitik abgelöst (Quelle 1). Die Zeiten sind vorbei, da ein Gorbatschow 1985/87 für ein gemeinsames «Europäisches Haus» eingetreten ist (Quelle 2).

Für Russland gehörte die Ukraine sozusagen schon immer zu seiner Domäne.

1945 machte die UdSSR ihre Mitwirkung in der UNO von der Forderung abhängig, in der nach dem Prinzip one state one vote funktionierenden Generalversammlung eine Doppelstimme zu bekommen, indem man der ukrainischen «Bruderrepublik» eine eigene UNO-Stimme einräumte. Und bei der Abtretung der Krim an die Ukraine von 1954 ging die Sowjetspitze davon aus, dass die formelle Zugehörigkeit dieses Teilterritoriums zur einen oder anderen Sowjetrepublik überhaupt keine Rolle spiele, weil Russland und die Ukraine eine ewige Einheit bildeten.

Welche Rolle spielt die Kirche in diesem Konflikt? Hier zeigt sich nicht die uralte, aber weit westlicher liegende Grenze zwischen Westrom und Ostrom, zwischen lateinischer und byzantinischer Kirche, zwischen dualistischer-polyzentrischer und autokratischer-zentralistischer Kultur. Zwischen diesen beiden Räumen gibt es in der Ukraine und in Weissrussland aber auch einen «Oszillationsraum», in dem die beiden Kirchentraditionen durch die griechisch-katholische Union verknüpft sind (Quelle 3). Die ukrainisch-orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarchat untersteht, hat in den jüngsten Tagen mit Erfolg den russischen Patriarchen Kyrill I. aufgerufen, seine Stimme gegen eine Militärintervention in der Ukraine zu erheben.

Zurückhaltung im Westen

Die Interessen des Westens an der Ukraine erscheinen zurzeit wesentlich geringer als diejenigen des Ostens. Die EU steht vor dem selbst wenig gesuchten Problem, ob sie diejenigen Kräfte der Ukraine unterstützen will, die sich auf sie ausrichten und von ihr Hilfe erwarten. Es gab aber Zeiten, die gar nicht so weit zurückliegen, da hatte der Westen noch mehr Appetit auf die Ukraine und da war deren Nato-Mitgliedschaft recht konkret angedacht worden – wie schon im Falle Georgiens. Mittlerweile könnte auf westlicher Seite die Einsicht gewachsen sein, dass es zwischen dem westlichen und dem östlichen Lager eine Pufferzone mit unbestimmter Zugehörigkeit oder – positiv ausgedrückt – ein Brückenelement braucht.

Die ukrainischen Westler könnten sich angesichts dieser Zurückhaltung verraten fühlen. Der Westen hat in Anbetracht der realen Machtverhältnisse schon einmal, im Februar 1945 und ausgerechnet auf der Krim, in Jalta, ohne Rücksicht auf die betroffene Bevölkerung (in jenem Fall vor allem Polen) die russischen Sicherheitsbedürfnisse anerkannt. Eine Assoziation oder gar eine Mitgliedschaft im Club der EU müsste im betreffenden Land einen entsprechenden Willen mindestens einer starken Mehrheit voraussetzen. Dass Janukowitsch als Staatschef beinahe im Alleingang das Land einmal in die eine und einmal in die entgegengesetzte Richtung steuern konnte, zeigt, wie schwach die demokratische Legitimation des Regierungsapparats dieses Landes war und wohl noch ist.

Nicht nur ist die Ukraine weit davon entfernt, den allgemeinen Aufnahmekriterien zu entsprechen. Die EU kann auch kein Mitglied wollen, in dem ein grösserer, kompakter Teil ganz entschieden gegen eine Mitgliedschaft ist.

Die Verhältnisse entsprechen nicht einer einfachen Symmetrie. Während im Innern der Ukraine die Balance dem Westen zuzuneigen scheint, ist das Land in den Aussenbeziehungen noch stärker vom Osten abhängig und, wie dargelegt, auch in historischer Hinsicht stärker dem Osten verbunden. Wie man auf allen Karten gezeigt bekommt, gibt es eine klare regionale Aufteilung. Ein kleinerer östlicher Teil (Donezk, Charkow etc.) tendiert gegen Osten und ein grösserer westlicher Teil eben gegen Westen. In dieser labilen Lage wird mit Angeboten und Drohungen von aussen auf das Land eingewirkt. Angebote gibt es von beiden Seiten, Drohungen dagegen nur von der einen.

Die EU kann kein Mitglied wollen, in dem ein grösserer Bevölkerungsteil gegen eine Mitgliedschaft ist.

Wichtiger als die regionale Zugehörigkeit ist mittelfristig jedoch das Bekenntnis zu dem einen oder anderen politischen Lager. Mit vielen Schattierungen stehen sich zwei gegensätzliche Staats- und Gesellschaftssysteme gegenüber, die man vereinfacht wie folgt unterscheiden kann: Für das eine ist die Gewährleistung von Bürgerrechten, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und liberaler Ökonomie wichtig; das andere pflegt Privilegien, schüchtert die Bürger ein und kultiviert Korruption.

Das zweite Lager funktioniert nach den Regeln der vergangenen Jahre, im ersten wachsen die Reformambitionen. Die beiden gesellschaftlichen Grundvarianten sind mit der Perspektive von Zugehörigkeiten zu je unterschiedlichen Unionen verbunden: eben zur Europäischen oder zur Eurasischen Union. Letztere ist ein hierarchisches und autoritäres Gebilde und beruht nicht auf einer zivilgesellschaftlichen Kultur und nicht auf der Gleichheit demokratischer Mitgliedstaaten und dem Vorrang des Rechts und dem Primat der Menschenrechte. Osten – Westen: die Himmelrichtungen bestimmen nichts fundamentalistisch an sich, sondern sagen nur etwas aus über die momentanen Verhältnisse.

Die Ukraine – Pussy Riot?

Die Ukraine ist nicht Pussy Riot, aber Putins Umgang mit beiden ist der gleiche: Der Differenz wird mit Diffamierung und Repression begegnet. Russland, im eigenen Land oder in Weissrussland kein Verteidiger von Menschenrechten, möchte in der Ukraine plötzlich Menschenrechte schützen und verunglimpft die ukrainische Demokratiebewegung pauschal als faschistisch. Es gibt in der Ukraine rechtsradikale Kräfte, doch haben diese Randgruppen gerade wegen des russischen Drucks Auftrieb erhalten. So schaukelt ein Nationalismus den anderen hoch. Ganz neu ist die ukrainische Demokratiebewegung nicht, sie meldete sich schon 2004 in der Orangenen Revolution, wurde dann aber wieder von den altetablierten Mustern verdrängt. Jetzt meldet sich wieder die legitime Ambition auf ein sicheres Bürgerleben mit individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, natürlich verbunden mit der Hoffnung, bezüglich des Lebenskomforts auch privat auf einen grünen Zweig zu kommen.

Die Erfüllung dieser Erwartungen liegt eher am westlichen und nicht am östlichen Horizont. Wie sehr für die Ukraine die Wohlstandssonne im Westen aufgeht, kann man in Texten des auch in unseren Breitengraden bekannten ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow nachlesen. Er wies auf die «Gesetzmässigkeit» hin, die er als aufmerksamer Beobachter auf seiner Reise von Kiew nach London gemacht hatte: «Der Osten eines jeden Landes war weniger entwickelt als der Westen. In mindestens drei Ländern, durch die ich reiste, fand ich meine Theorie bestätigt: Die schmutzigen, halb zerfallenen Fassaden der Häuser im Osten wichen im Westen allmählich gepflegten, frisch gestrichenen Fassaden.» Das sei ihm in der Ukraine, in Polen und in Deutschland aufgefallen. Nur jenseits der westdeutschen Grenze sei «einfach nur noch Westen» gewesen (Quelle 4).

Brennpunkt im Brennpunkt

Inzwischen hat sich im Spannungsfeld zwischen Westen und Osten als besonderer Konfliktherd die Halbinsel Krim (26’000 Quadratkilometer mit gegen zwei Millionen Menschen) in Erinnerung gerufen. Hier zeigt sich, was bis zu einem gewissen Grad für die ganze Ukraine gilt, dass es nicht nur um die Unterstützung bestimmter Bevölkerungsteile, sondern auch um Territorien – um Geopolitik – geht. Russland rechtfertigt die Besetzung der Krim damit, dass sie die Russen, die auf der Halbinsel eine Bevölkerungsmehrheit von gegen 60 Prozent innehaben, vor akuter «tödlicher Bedrohung» schützen müsse. Wie es dies in der Geschichte (man denke nur an das Sudetenland 1938 oder an die Tschechoslowakei 1968) wiederholt gegeben hat, dürften auch in diesem Fall die «Hilferufe» von der sprungbereiten Schutzmacht angeregt worden sein.

Russland verfolgt zwei andere Ziele: Einmal die Sicherung des Gebiets, das für seine Flotte und den Zugang zum Schwarzen Meer und zum Mittelmeer von höchster strategischer Bedeutung ist. Und zum anderen soll die Krim zusammen mit den wegen der Schwerindustrie wirtschaftlich interessanten Teilen der südöstlichen Ukraine eine Plattform bilden, von der aus das weitere Abgleiten der Ukraine in den Westen gebremst oder gestoppt werden kann.

Wie rechtfertigt sich eigentlich, welches Territorium wem gehört?

Aus westlicher Schreib- und Stammtischperspektive kann man die Meinung haben, dass die Russen, sofern sie die wirklichen Minderheiten (insbesondere die 12 Prozent muslimische Tataren, aber auch die 25 Prozent Ukrainer) wirklich zu respektieren bereit sind, doch diese Halbinsel (zurück-)bekommen sollen, die 1954, wie bereits angedeutet, von dem aus dem Donezkbecken stammenden ukrainischen Parteichef der KPdSU Nikita Chruschtschow in einem diktatorischen Verwaltungsakt aus der russischen in die ukrainische Sowjetrepublik umgetopft worden war. Einige Zeit davor – 1783 – hatte Fürst Potemkin die Krim den am Osmanischen Reich orientierten Krimtataren «für alle Zeiten» abgenommen. Wie rechtfertigt sich eigentlich, welches Territorium wem gehört?

Die weitere Entwicklung ist völlig offen. Das Positive an der geringen Unterstützung aus dem Westen ist: Es stärkt in der Ukraine die Einsicht, dass man die Ordnung im Sinne von lebbaren Verhältnissen vor allem selbst schaffen muss. Der russische Druck hat in die Ukraine zu einem innergesellschaftlichen Schulterschluss geführt, hat das Land zu einer nationalen Einheit werden lassen, wie es sie vielleicht zuvor nie gewesen ist. Wenn sich diese nationale Stimmung mit demokratischen Bestrebungen verbindet, könnte das entstehen, was wir Willensnation nennen, eine Gesellschaft, die ihre Identität weniger über Altlasten definiert als mit einem Zukunftsprojekt. Das aber braucht Zeit.

Quellen

Quelle 1:  Martin Weber, Ein Europa? Die europäische Integration in der russischen Historiographie nach 1985. Köln 2013.

Quelle 2: Georg Kreis, Das Haus Europa. In: Europäische Erinnerungsorte. München 2012. Bd. 2. S. 577-584.

Quelle 3: Christophe von Werdt, Wo der Osten den Westen trifft. In: NZZ vom 18. Oktober 1996.

Quelle 4: Andrej Kurkow, Galizien ist anders. In: NZZ vom 10./11. Mai 2003.

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