Schiessen oder Schengen?

Rechtspopulisten warnen davor, dass eine neue EU-Regelung «Hunderttausende von Schweizer Bürgern» entwaffne. Die angebliche Sorge um die Schützenfreiheit ist dabei nur ein Vorwand, um Beziehungen zur EU weiter abzubauen.

Das neue Waffengesetz sollte ohne Rekurs auf eine schweizerische «Urfreiheit» diskutiert werden.

(Bild: KEYSTONE/Guido Roeoesli)

Rechtspopulisten warnen davor, dass eine neue EU-Regelung «Hunderttausende von Schweizer Bürgern» entwaffne. Die angebliche Sorge um die Schützenfreiheit ist dabei nur ein Vorwand, um Beziehungen zur EU weiter abzubauen.

Gibt es zur legendären Schützenfreiheit der Schweiz was Neues zu sagen, seit sie vor zehn Monaten in diesem Blatt schon einmal thematisiert worden ist? Ja, das gibt es. Aber es gibt auch Altes zu wiederholen. Jean-Daniel Gerber hat als Direktor des Bundesamts für Migration einmal gesagt, dass es Dinge gibt, die man eben immer wieder und in gleicher Weise sagen muss.

Zum Alten, das erneut gesagt werden muss, gehört, dass die «jahrhundertelange» Waffenfreiheit ein Mythos ist. Lange Zeit hatten Schweizer Männer als Bewohner zweiter oder dritter Klassen kein Recht, Waffen zu tragen. Und die allgemeine Bewaffnung der wehrpflichtigen Männer wurde erst mit der Verfassungsreform von 1874 zur Norm, bedeutete aber kein Privileg.

«Schweizer Klausel» für Sturmgewehre

Das Neue ist, dass der EU-Ministerrat am 25. April 2017 die seit den Pariser Attentaten vom November 2015 geplante Verschärfung des Waffenrechts nun diskussionslos mit 25:3 Stimmen beschlossen hat. Gegen diese strengeren Bestimmungen waren einzig Polen und Tschechien; Luxemburg stimmte Nein, weil ihm die Bestimmungen zu wenig weit gingen.


Die Schweiz muss als Schengen-Mitglied die neue Regelung übernehmen. Und da sie nicht EU-Mitglied ist, konnte sie nicht mit abstimmen. Im Vorfeld konnte sie in diplomatischen Verhandlungen immerhin teilweise auf eine Berücksichtigung «schweizerischer Kultur» hinwirken, was teilweise gelang, teilweise auch nicht.

Nach der ursprünglichen Regelung hätte die Armee das Sturmgewehr (eine halbautomatische Waffe mit 20-Schuss-Magazin) den aus dem Wehrdienst entlassenen Mannen nicht mehr überlassen dürfen. Man kann diese Waffe immerhin für 100 Franken erwerben, und erstaunlich viele (etwa 10 Prozent) machen von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Die ausgehandelte «Schweizer Klausel» lässt den ausserdienstlichen Besitz von Sturmgewehren weiterhin zu, sofern die Inhaber der Waffe Mitglied eines Schützenvereins werden, regelmässig an Übungen und Wettkämpfen teilnehmen und sich medizinischen Kontrollen unterziehen.

Es ist irrational, dass sich ausgerechnet Schützenvereine gegen eine Regelung wehren, die ihnen eine zusätzlich positive Funktion einräumt.

Es ist schwer verständlich, eigentlich irrational, dass sich ausgerechnet Schützenvereine gegen eine Regelung wehren, die ihnen eine zusätzlich positive Funktion einräumt. Diese Vereine genossen während etwa eines Jahrhunderts erfreulich hohe Mitgliederzahlen, weil die Erfüllung der ausserdienstlichen Schiesspflicht eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein voraussetzte. 1996 erlebten sie mit der Aufhebung des «Obligatorischen» aber eine gewisse Zurückstufung. Jetzt könnten sie dank der vorgesehenen Novelle wieder zusätzliche Bedeutung erlangen. In der Praxis sind die organisierten Schützen höchst disziplinierte Leute und mit ihrem geschulten Verhalten keine Gefahr für die Gesellschaft.

Im September 2016 hatte der Berner SVP-Nationalrat Werner Salzmann, Präsident eines Schiesssportverbands, in einer masslosen, aber nicht untypischen Übertreibung erklärt, dass mit der neuen Regelung «Hunderttausende von Schweizer Bürgern entwaffnet würden». Vom Bundesrat forderte er resoluten Widerstand. Er suggerierte im vergangenen Herbst, dass die Schweiz mit skandinavischen und baltischen EU-Mitgliedern gemeinsame Front machen könne. Dies hat sich im Lichte des jüngsten Beschlusses als Illusion erwiesen. Dennoch sprach sich der Nationalrat am 15. März 2017 mit 118 zu 58 Stimmen für die Motionsüberweisung aus. Wenn es um die Verteidigung der «Schweizer Freiheit» geht, wollen viele Parlamentarier nicht hintanstehen.

Auch im inoffiziellen SVP-Blatt, das noch immer den Titel «Basler Zeitung» trägt, polemisierte am 5. Mai ein Kolumnist gegen «EU-Schwärmer», die noch nicht gemerkt hätten, dass Terroristen nicht Schusswaffen, sondern Lastwagen einsetzen würden. Dass ein Polizist auf den Champs-Élysées am 20. April bei einer Schiesserei sein Leben verlor, ist ihm offenbar entgangen. Dafür meinte er, das zügige Voranschreiten der «europaweiten Entwaffnung der Bevölkerung» beklagen zu müssen. Zugleich frohlockte er jedoch, weil die anstehende Verschärfung des Waffenrechts dem Referendum ausgesetzt ist und dies die willkommene Gelegenheit biete, das Schengen/Dublin-Abkommen zu versenken.

Schlacht «für oder gegen» Europa

In dem Lande, das Schweiz heisst, gibt es Leute, die ganz entschieden der Meinung sind, dass man sich fürs Schiessen aussprechen muss und nicht für Schengen – sollte dies die Alternative sein. Schiessen ist was Eigenes, Schengen was Fremdes. Hier wird aber ein sehr persönliches Ego zu einem nationalen Wert hochgeschwatzt, wird ein Mythos beansprucht.

Schiessen und Schengen muss sich nicht gegenseitig ausschliessen. Das hindert diese Leute aber nicht, dies so zu sehen. Schiessen als Hobby, als Sport ist ihnen wichtig, sie erklären jedoch, dass es in erster Linie um eine grosse Schweizer Tradition geht. Bei der angeblichen Verteidigung der kollektiven Freiheit des ganzen Landes geht es in Wirklichkeit hier nur um die eigene Privatfreiheit.

Es dürfte auch Leute geben, denen die Schützenfreiheit eigentlich egal ist, aber überhaupt nicht egal, dass sich die Schweiz immer stärker auf eine europapolitische Koordination und Harmonisierung einlässt und darum diese Gelegenheit nutzen möchten, die Beziehungen zur EU wieder abzubauen. Ein Referendum zu einem im Sinne der Schengen-Regelung revidierten Waffengesetz würde zu einer willkommenen helvetischen Schlacht «für oder gegen» Europa.

Die sachliche Alternative wäre aber eine andere: kleinere Einschränkung der Waffenfreiheit gegen die grossen Vorteile von Schengen/Dublin, von Abkommen also, die wohlgemerkt 2005 vom «Volk» angenommen wurden und im Falle von Schengen Fachleuten gemäss eindeutig Verbesserungen im Kampf gegen Kriminalität bringen und im Falle von Dublin die erwünschte Rückführung in Erst-Asylländer ermöglichen.

Man kann über den bürokratischen Unsinn einer Einschränkung diskutieren, aber nicht mit Rekurs auf eine schweizerische «Urfreiheit».

Im Nachvollzug von «fremden» Erwartungen wurde im Feld der Waffenfreiheit schon 2008 eine Verbesserung eingeführt: Die Schweizer Soldaten dürfen die frühere Not- bzw. Taschenmunition nicht mehr mit nach Hause nehmen. Die Schweizer Freiheit ist deswegen nicht untergegangen. Eine andere Reform ist dagegen gescheitert: Ein zentrales Waffenregister wurde 2008 aus Rücksicht auf den Föderalismus abgelehnt. Damit wäre man der traditionellen Schweiz offenbar zu nahegetreten; so begnügte man sich mit interkantonalem Informationsaustausch. Unheil naht aber erneut von aussen – von der EU: Sie strebt nämlich ein gesamteuropäisches Waffenregister an. Da können Tells Söhne erneut auf die Barrikaden gehen beziehungsweise sich hinter Letzinen verschanzen.

Einschränkungen können aber auch bloss gut gemeint und im Einzelfall bürokratischer Unsinn sein. Ist dies im Schiesswesen der Fall? Wenn ja, dann sollte man darüber diskutieren, aber nicht mit Rekurs auf eine schweizerische «Urfreiheit» und archaische Ressentiments gegen Landvögte. Besonders wichtig ist sicher der sorgfältige Umgang bei Online-Waffenverkäufen.

Es sei nicht in Abrede gestellt, dass dem Schiesswesen eine weitere kleine Einschränkung auferlegt wird und dies im Zuge eines generellen Schwunds «ursprünglicher» Freiheiten geschieht. Wir dürfen nicht mehr bauen, wie wir wollen; die Gewerbetreibenden sind (z.B. bezüglich Lärm und Abwassernutzung) Vorschriften unterworfen, die vorher nicht bestanden. Wir sind sogar in unserer automobilen Geschwindigkeit beschränkt (neuerdings sogar auf 20 oder 30 Kilometer!). Wir müssen Hunde registrieren lassen, unsere Kinder in die Schule schicken und sind der Kesb ausgesetzt.

Immer mehr Freiheiten

Im Gegenzug geniessen wir immer mehr Freiheiten, die unseren Vorfahren verweigert waren oder die sie sich schlicht nicht erträumten. Wir sind wesentlich freier in unserer Berufs- und Wohnortswahl, in unserer Freizeitgestaltung. Die meisten verfügen über mehr oder weniger Mittel über das Existenzminimum hinaus, die nach eigenem Gusto eingesetzt werden können (zum Beispiel auch im Sportschiessen). Wir können sogar, wenn wir das unbedingt wollen, zu einem Cappuccino nach Locarno (durch den Gotthard) brausen oder schnell zu einer Paella nach Barcelona fliegen. Letztlich doch wichtiger dürften der freie Informationszugang im Internet und die telekommunikative Freiheit unseres privaten Sendens und Empfangens sein.

Wägen wir die entwicklungsbedingten Zunahmen von Freiheiten und Unfreiheiten ab, gibt es wohl keinen Grund, die Verhältnisse zu dramatisieren.

Das ist oder war, wie gesagt, eine zweite Stellungnahme zu einem älteren bereits erörterten Thema. Man kann sich schon jetzt überlegen, was im Zuge weiterer Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsgewinne in einer weiteren Stellungnahme bemerkt werden könnte, hier in der TagesWoche in 25, in 50 oder in 100 Jahren.

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