Schottland soll aus der Union austreten und ein unabhängiger Staat werden. Dafür legen sich die Leute der offiziellen «Yes Scotland»-Kampagne mächtig ins Zeug. Am 18. September wird sich an der Urne weisen, ob sich die Schotten trauen.
Der Soundtrack der Dumbarton Road in Glasgows West End, das sind die Sirenen der Ambulanzen auf dem Weg ins nahegelegene Spital, das Scheppern des Vorortszugs, der auf- und abschwellende Kriegsgesang der TV-Fussballspiele aus den Pubs. Im «Stumps» trinken die Fans der Glasgow Rangers, protestantisch und somit tendenziell gegen einen Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich, in der «Smiddy Bar» die Anhänger von Celtic Glasgow, katholisch und daher eher für die Abspaltung: «Wir wollen weg von der Queen.» Clan-Denken à la Glasgow.
Die Dumbarton Road ist ein Arbeiterviertel, keine Entenfütterergegend. Thomas lebt hier. Er hat drei Kinder, zwei Kampfhunde und keinen Job, und wenn man ihn nach dem 18. September fragt, dem Big Vote, dem alles entscheidenden, historischen Tag, dann sagt er: «Ja, ich finde, wir sollten es versuchen, auch wenn ich Alex Salmond nicht mag. Der hat so etwas Machtgeiles. Aber es geht ja nicht um ihn, sondern um uns.»
«Du musst es dir vorstellen können, dann wird es wahr.»
Für so viel Risiko ist Sally nicht zu haben. Sie hat es schwer genug im Leben, auf noch mehr Glatteis führt sie keiner mehr. Mit der Unabhängigkeit soll alles besser werden? Sozialer, gerechter, mit weniger Suppenküchen und Kinderarmut? Wers glaubt. Der National Health Service NHS, der staatliche Gesundheitsdienst, ist eine Katastrophe und liegt doch bereits seit Jahren in der Verantwortung von Alex Salmonds regierender Scottish National Party SNP. «Wenn sie den NHS nicht hinkriegen, wie wollen sie dann ein unvergleichlich gewichtigeres Projekt wie ein unabhängiges Schottland stemmen?»
Sally und Thomas: Das Meinungsforschungsinstitut YouGov ergründet die Stimmungslage von Leuten wie sie. Frage: «Should Scotland be an independent country?» Stand der Antworten vom April 2014: «No» bei 58 Prozent (Dezember 2013: 61 Prozent), «Yes» bei 42 Prozent (39 Prozent), Unentschlossene ausgeklammert; Unentschlossene bei 11 Prozent. Die «Yes»-Fraktion gewinnt an Terrain, vor allem dank der bislang skeptischen Frauen. «Du musst es dir vorstellen können, dann wird es wahr», wird eine Folksängerin später auf einer «Yes»-Veranstaltung sagen.
Schottland, genauer gesagt 5,3 Millionen Schottinnen und Schotten, leiden unter einem demokratischen Defizit. Sie haben zwar seit 1999 mit Holyrood in Edinburgh ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung, aber deren Verantwortlichkeiten beschränken sich auf Ressorts wie Gesundheit, Bildung, Justiz. Die Steuerhoheit hingegen liegt fast gänzlich in Westminster. Dort allerdings regieren öfters die Tories mit ihrer neoliberalen Politik und ihren Sparprogrammen: Margaret Thatcher von 1979 bis 1990, dann John Major, jetzt David Cameron.
Die einen sehen überall rotblinkende Gefahrenherde, die anderen himmelblaue Chancen. Erstere haben den Grossteil der Medien auf ihrer Seite, Letztere ein Heer von nimmermüden Freiwilligen.
Die Schotten können sich über vieles in die Haare geraten, in einem aber stehen sie zusammen wie eine Eins: Tories sind bei ihnen nicht mehrheitsfähig. Von den 59 Parlamentsmitgliedern, die Holyrood nach Westminster schickt, gehören 40 Labour an, nur ein einziger ist Tory. Es gibt demnach, so lautet das Bonmot, mehr Pandas in Schottland, nämlich zwei, als schottische Tories in Westminster.
Schottland ist eigentlich Labour-Land. Wären da nicht Alex Salmond und seine linksnationale SNP. 2007 avancierte die SNP in den schottischen Parlamentswahlen zur stärksten Partei, vier Jahre später gewann sie die absolute Mehrheit. Seither regiert der Erste Minister im 129-köpfigen Parlament mit komfortablen 69 Sitzen, gefolgt von Labour mit 37, den Tories mit 15 und den Liberaldemokraten mit 5. Und seither steht das Referendum, notabene gegen den Willen der etablierten drei, zuoberst auf seiner Traktandenliste, eine einmalige Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre inklusive.
High Noon in Schottland. Die Uhr tickt. Es treten an: Auf der einen Seite «Better Together», im Volksmund bekannt als «Project Fear», die unbeteiligt anmutende Zwangsallianz der Etablierten; auf der anderen «Yes Scotland», ein Bündnis aus SNP, den Grünen, den Sozialisten und einer Handvoll Splittergruppen, bekannt als «Project Reassurance». Die einen sehen überall rot blinkende Gefahrenherde, die anderen himmelblaue Chancen. Erstere haben den Grossteil der Medien auf ihrer Seite, Letztere ein Heer von nimmermüden Freiwilligen, die die Spendengelder darauf verwenden, Woche für Woche in ganz Schottland Orientierungsabende zu veranstalten, Infostände zu bestücken, Ansteckknöpfe und Flyer unter die Leute zu bringen.
«Wir Schotten sind ja genetisch bedingt nicht dafür geeignet, politische Entscheidungen zu treffen.»
«Yes»-Abend im rotplüschigen Palace Theater in Kilmarnock, einem kleinen, wirtschaftlich gebeutelten Städtchen südwestlich von Glasgow. Was die Plakate eine «Öffentliche Veranstaltung für Unentschlossene» nennen, entpuppt sich als Heimspiel mit Jubelgarantie. Der Saal ist proppenvoll. Väter haben ihre Söhne mitgebracht, Mütter reden von ihren Töchtern, die es einmal besser haben sollen. Helfer verteilen Zettelchen mit «Yes», «No» und «Maybe», lassen eine Kartonschachtel mit Schlitz als Wahlurne durchreichen, einmal vor der Veranstaltung, einmal danach. Für die Erfolgskontrolle.
Vorne auf dem Podium sitzen eine SNP-Frau, eine von den «Women for Independence», ein Grüner und Jim Sillars, ein Unabhängiger. Den kennt hier jedes Kind. «Es gibt welche, die haben ein bisschen Angst vor der Unabhängigkeit», ruft Sillars in den Saal: «Ich nicht.» Tosender Applaus. Und, bei Labour wildernd: «Labour ist die Arbeiterklasse egal. Die kümmern sich nur noch um den Mittelstand.» Applaus. Dann, feixend Johann Lamont, die Chefin der schottischen Labour-Partei, zitierend: «Wir Schotten sind ja genetisch bedingt nicht dafür geeignet, politische Entscheidungen zu treffen.» Brüllendes Gelächter. Hier tobt der Konsens. Wer sich jetzt noch traut, eine kritische Frage zu stellen, tut besser daran, nah beim Ausgang zu sitzen.
Ein 85-jähriger Mann in einer Turnhalle in der Nähe von Edinburgh traut sich. Es geht an diesem «Yes»-Abend um Selbstbestimmung, Selbstachtung und diesmal auch um den «wallet war», den Krieg um den Geldbeutel. Ja, Schottlands Pro-Kopf-Einkommen liegt im britischen Durchschnitt, rechnet man die Einkünfte der nahezu zur Gänze auf schottischem Gebiet liegenden Öl- und Gasvorkommen hinzu, sogar höher. Ja, Schottland hat ausgezeichnete Universitäten, ist führend in Biowissenschaften und Windenergie, exportierte 2013 Whisky im Wert von 4,3 Milliarden Pfund. Edinburgh ist nach London der zweitgrösste Finanzplatz des Vereinigten Königreichs. Kapital aber flüchtet gerne in sichere Häfen.
«Die einen sagen das, wir sagen etwas anderes. Ihr müsst euch eure eigene Meinung bilden.»
Wäre es da nicht besser, fragt der Mann, man wüsste punkto zukünftiger Währung bereits jetzt genauer Bescheid? Immerhin hat Schatzkanzler George Osborne eine Währungsunion schon mal kategorisch ausgeschlossen. Die Antwort des «Yes»-Lagers ist Standard: «Der blufft nur.» – «Nein, der blufft nicht», gibt sich der Mann überzeugt. – «Doch. Und sollte er nicht nachgeben, dann weigern wir uns, unseren Anteil an der britischen Staatsschuld zu übernehmen.» Der Mann hat lange in England gelebt und sich gewerkschaftlich engagiert. Er ist jetzt ein bisschen traurig um die Augen.
«Use common sense», rät Nicola Sturgeon dem Publikum im Saal: Braucht euren gesunden Menschenverstand. Die Stellvertretende Erste Ministerin ist nach Galashiels in den Scottish Borders gekommen, dem Verwaltungsgebiet an der Grenze zum englischen Northumberland. «Die einen sagen das, wir sagen etwas anderes. Ihr müsst euch eure eigene Meinung bilden.»
Kein leichtes Unterfangen. Der Blick in die Kristallkugel macht leicht schwindlig. Man merkt es an den Fragen aus dem Publikum: Wird ein Finanzdienstleister wie Standard Life in Edinburgh bleiben oder wegziehen? Wird die EU ein souveränes Schottland mit offenen Armen empfangen oder wird es langwierige Neuverhandlungen geben? Ist meine Rente sicher?
Sollten die 4,2 Millionen Wahlberechtigten am 18. September tatsächlich mehrheitlich für die Unabhängigkeit votieren, kommt es anschliessend während 18 Monaten zu Verhandlungen. Mit Westminster, mit der EU, mit wem auch immer. Dann, aber erst dann, wird sich vieles klären. Im Mai nächsten Jahres finden zudem im gesamten Land Parlamentswahlen statt. David Cameron könnte sie verlieren. Die rechtsnationale United Kingdom Independence Party (Ukip) könnte erstmals mit ein paar Sitzen ins Unterhaus einziehen. Das Vereinigte Königreich geht spannenden Zeiten entgegen.