Schwarzpeter-Spiel mit gezinkten Karten

Die Suche nach einem Atommüll-Lager ist falsch aufgegleist. Zum einen besteht bei den Standorten für hochradioaktive Abfälle keine echte Auswahl. Zum andern werden Endlager dort in Erwägung gezogen, wo spätere Generationen einmal Gas und Kohle gewinnen könnten.

Atommüll-Endlager sollten besser nicht in Gesteinsschichten gebaut werden, wo Kohle- und Erdgasvorkommen liegen. Sonst ist deren Nutzung ausgeschlossen. Im Bild: Radioaktives Material im deutschen Atommüll-Lager Morsleben. (Bild: Keystone/Laif/Jürgen Schrader)

Die Suche nach einem Atommüll-Lager ist falsch aufgegleist. Zum einen besteht bei den Standorten für hochradioaktive Abfälle keine echte Auswahl. Zum andern werden Endlager dort in Erwägung gezogen, wo spätere Generationen einmal Gas und Kohle gewinnen könnten.

Da wird das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt», sagt Walter Wildi. Er ist Geologieprofessor an der Universität Genf und langjähriger Präsident der Kommission für die Sicherheit der Atomanlagen des Bundes. Wildi hält das Vorgehen bei der Suche nach einem Tiefenlager für die hochaktiven Abfälle aus den Schweizer Atomkraftwerken, die noch Jahrtausende lang strahlen werden, für verkehrt. «Man sucht zuerst nach dem besten Platz für die Anlagen an der Erdoberfläche, bevor man überhaupt weiss, ob der geologische Untergrund an den möglichen Lagerstandorten geeignet ist.»

Seit 2008 läuft die Suche nach geologischen Tiefenlagern für die hochradioaktiven Abfälle, und tatsächlich wird derzeit an sechs Standorten bereits über die sogenannten Oberflächenanlagen diskutiert, bevor untersucht worden ist, ob sich der Untergrund für Atommüll eignet. «Das ist falsch aufgegleist», sagt Wildi deshalb. «Die geologische Eignung eines Standorts muss als Erstes belegt werden. Der Standort der zugehörigen Oberflächenanlagen hat sich weitgehend nach diesem geologischen Befund zu richten.» Für diese Erkenntnis braucht es eigentlich gar kein Expertenwissen, sondern bloss gesunden Menschenverstand.

Auswahl vorgegaukelt

Für Wildi ist dieser grundlegend falsche Ansatz aber nur der offensichtlichste Mangel im laufenden Verfahren. «Für viel gravierender halte ich, dass vor allem bei der Standortsuche für ein Lager des besonders gefährlichen hochaktiven Abfalls eine Auswahl vorgegaukelt wird, die es beim aktuellen Kenntnisstand gar nicht gibt», sagt er. Nur drei der sechs Gebiete kommen wirklich in Frage: Benken im Zürcher Weinland, die Region nördlich der Lägern und der Bözberg. An allen drei Standorten wird nach einem Standort für ein Hochaktiv-Tiefenlager im sogenannten Opalinuston gesucht, den man im Untergrund der Nordschweiz findet.

In Benken hat man die Geologie auch tatsächlich einigermassen gründlich erforscht, als man den Nachweis erbringen musste, dass dort grundsätzlich hochaktiver Atommüll im tiefen Untergrund gelagert werden kann. 2006 hat der Bundesrat diesen Nachweis akzeptiert. In den beiden anderen Gebieten weiss man aber viel weniger darüber, wie die Geologie beschaffen ist: Hat man in Benken tatsächlich eine Bohrung durch den Opalinuston hindurch bis ins stabile, kristalline Grundgebirge vorgenommen, hat die Nagra den Bözberg und die Region nördlich der Lägern bisher nur mit viel unsichereren Methoden von der Erdoberfläche aus untersucht. Bevor man seriös eine Auswahl für einen Lagerstandort treffen könne, müsse der Kenntnisstand aber vergleichbar sein, sagt Wildi. «Bisher ist das ein Schwarzpeter-Spiel mit gezinkten Karten.»

Entscheidende Dinge weiss man allerdings heute schon, und die lassen den Bözberg und das Gebiet nördlich der Lägern als umso fraglicher erscheinen: «In der Schweiz lernen Geologiestudenten seit nunmehr 45 Jahren, dass die Sedimentgesteine im Jura bis weit in den Norden durch den Fernschub aus den Alpen tektonisch deformiert sind. Seit 30 Jahren gibt es auch Beweise und starke Hinweise, dass unter der Nordschweiz ein tiefer Permokarbon-Trog mit Kohle- und Erdgasvorkommen liegt. Und seit 30 Jahren weiss man auch, dass die Region in der Schweiz zu denen mit dem höchsten Erdwärmefluss gehört.»

Spätere Nutzung verunmöglicht

«All dies spricht dagegen, dass dort ein Tiefenlager für hochaktive Atomabfälle platziert wird», sagt Wildi. Der Bau eines Lagers für Hochaktiv-Abfälle würde die künftige Nutzung von Kohle, Gas und Erdwärme verhindern, denn jede Störung der Geologie würde die Sicherheit eines Lagers, die über 100 000 Jahre lang garantiert werden muss, gefährden.

Wildi hat seine Kritik am eingeschlagenen Weg der Standortsuche in einem Memorandum zusammengefasst, das er inzwischen unter anderem an die Regionalkonferenzen des Sachplanverfahrens, die Fachorgane der möglichen Standortkantone, die zuständigen Bundesbehörden und die Nagra geschickt hat.

Der Genfer Geologe betont, dass seine Kritik nicht der Arbeit von Fachkollegen bei der Nagra gelte, die seit Jahren durchaus gute Arbeit leisten würden. Die Weichen falsch stellen würden die obersten Verantwortlichen der Atommüll-Entsorgungsgenossenschaft zusammen mit dem federführenden Bundesamt für Energie.

Seit 30 Jahren weiss man, dass die Gesteine im Jura deformiert sind.

Dort betrachte man die Tiefenlager-Standortsuche inzwischen leider weniger als ein Problem der Sicherheit als eines der Politik. Gerade in den derzeit wirtschaftlich schwierigen Zeiten für die Schweizer Stromwirtschaft sei die Nagra an einem für die AKW-Betreiber möglichst kostengünstigen Auswahlverfahren interessiert. Und auch im fachlich überforderten Bundesamt habe nicht die Sicherheit, sondern der möglichst reibungslose Ablauf des einmal gewählten Fahrplans des Sachplan-Verfahrens Priorität. «Vom heutigen Kenntnisstand aus erscheint mir ein Festhalten am Kurs aber sinn- und kopflos», sagt Wildi.

Bei der Nagra weist man Wildis Vorwürfe zurück, allerdings ohne auf seine Sachkritik einzugehen: «Das Vorgehen entspricht dem Sachplan geologische Tiefenlager und die Nagra bekennt sich zum darin definierten Standortwahlverfahren», sagt Nagra-Mediensprecherin Jutta Lange. «Alle sechs Standortgebiete erfüllen die generellen Anforderungen und werden jetzt in Etappe 2 des Verfahrens sicherheitstechnisch verglichen.» Bei der Auswahl der Gebiete habe man im Übrigen auf mögliche Nutzungskonflikte geachtet, so Lange. Noch einsilbiger gibt man sich im federführenden Bundesamt. «Die angesprochenen Themen sind in den Kriterien des Sachplans berücksichtigt», sagt Sprecherin Marianne Zünd.

Kritik an der Rolle der Nagra

Ausführlicher wird sich das Bundesamt wohl zur soeben eingereichten ­Interpellation des Aargauer SP-Na­tionalrats Max Chopard-Acklin äus­sern müssen, der Wildis Memorandum zum Anlass für einen parlamentarischen Vorstoss genommen hat. Und auch die grundsätzliche Kritik am Sachplanverfahren und an der Rolle der Nagra können Doris Leuthards Energiebeamte nicht länger ignorieren: Chopards Schaffhauser Rats- und Parteikollege Hans-Jürg Fehr hat nämlich gleich mehrere Vorstösse zum Thema eingereicht, darunter eine Motion mit dem Titel «Die Nagra ­unter demokratische Kontrolle bringen». Sie fordert den Bundesrat auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen, «um die privatrechtliche ­Genossenschaft Nagra in eine Körperschaft öffentlichen Rechts umzuwandeln». Dabei soll ­deren Finan­zierung durch die Verursacher der radioaktiven Abfälle beibehalten werden. «Die zu grosse Nähe von Abfallproduzenten und Entsorgungsfirma erweist sich zunehmend als gravierender Nachteil», schreibt Fehr in der Begründung zu seinem Vorstoss.

Markenzeichen Unabhängigkeit

Der aus dem Aargau stammende 64-jährige Genfer Geologieprofessor Walter Wildi ist zusammen mit seinem Fach­kollegen Marcos Buser der prominenteste Kritiker der Atom-Entsorgungspolitik von Bund und Nagra. Ende der 90er-Jahre war er es, der das bis heute gültige Konzept der Schweizer Atommüll-Tiefenlagerung entwarf. Energieminister Moritz Leuenberger zog Wildi damals auch als unabhängigen Vermittler beim gescheiterten Nagra-Endlagerprojekt am Nidwaldner Wellenberg bei – allerdings zu spät. Von 1997 bis 2007 war Wildi Mitglied der Expertenkommission für die Sicherheit von Kernanlagen (KSA) des Bundes, die er von 2002 bis 2007 präsidierte. In dieser Rolle profilierte er sich – nicht zur Freude der Schweizer Atomwirtschaft – als tatsächlich unabhängiger Fachmann, der auch den offiziellen Atomkontrolleuren des Bundes, der damaligen Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK), genau auf die Finger schaute. Heute gilt der Direktor des Genfer Instituts F.-A. Forel auch über die Schweizer Grenzen hinaus als Experte für Atom- und Sondermüll-Lagerung. So hat er sich auch intensiv mit der Sanierung von Chemiemüll-Deponien in Bonfol und der Region Basel beschäftigt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 29.03.13

Nächster Artikel