Das Fach Schweizergeschichte ist an der Uni Zürich Geschichte. Das heisst aber nicht, dass die Schweizer Geschichte vernachlässigt würde. Gerade in diesem Jahr der Jubiläen boomt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Die Universität Zürich streicht das Fach Schweizergeschichte vollends aus ihrem Programm. Und dies ausgerechnet in einer Zeit, da das rechtsnationale Lager mit seinem antiquierten Geschichtsbild zu punkten versucht. Diese Neuigkeit war sogar der «Tagesschau» von SRF einen Beitrag wert.
Protestierende SVP-Politiker erblicken darin eine von linken Professoren betriebene «Liquidation der nationale Geschichte». Zudem sehen sie den Entscheid als Folge davon, dass zu viele deutsche Professoren an Schweizer Universitäten berufen würden. Dass sich in den letzten Jahren immer weniger Nachwuchseidgenossen für ein auf die Schweiz eng geführtes Geschichtsdiplom interessierten, bleibt dabei völlig unbeachtet.
Von einer Vernachlässigung der Schweizer Geschichte an unseren Universitäten zu reden, ist grober Unsinn. Zwar wird in Lehre und Forschung tatsächlich keine traditionelle Vaterlandsgeschichte mehr betrieben, sondern internationale Gesellschaftsgeschichte mit schweizerischen Fallbeispielen. Widerlegen lässt sich der Vorwurf auch mit dem Hinweis, dass der Basler Schwabe Verlag letztes Jahr eine umfassende neue Schweizer Geschichte herausgebracht hat, die weitestgehend von Universitätsangehörigen verfasst (und vom Autor als Herausgeber verantwortet) worden ist.
Gegensätzliche Schlussfolgerungen
Vernachlässigung – wenn dem so wäre, stünde dies im doppelten Widerspruch zum neu erstarkten Interesse an Schweizer Geschichte und der Ballung von Jubiläen, die man in diesem Jahr meint begehen zu müssen: von der angeblichen Schlacht am Morgarten 1315 und der Annexion des Aargaus 1415 über die heldenhafte Niederlage bei Marignano 1515 und die Auferlegung des Bundesvertrags durch die Grossmächte 1815 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Solche Jubiläums-Aufmerksamkeiten sind allerdings problematische Betrachtungen der Geschichte, weil sie mit ihrer Fokussierung auf einen Punkt schnell die grossen Zusammenhänge unbeachtet lassen.
Dennoch muss man sich diesen Pseudo-Aktualisierungen der Geschichte stellen, zumal man diese runden Daten nicht denjenigen überlassen soll, die daraus gerne ihre eigene Suppe kochen. Mit der Hervorhebung dieses oder jenes Datums kann man bekanntlich unterschiedliche Akzente setzen, ja es lassen sich sogar – besonders deutlich bei Marignano – anhand desselben Vorgangs gegensätzliche Schlüsse ziehen.
Nur der Mythos ist massgebend
Die Rechte verherrlicht die Schlacht von 1515, weil sie darin den Anfang des selbstbestimmten Rückzugs aus dem Spiel der europäischen Mächte sieht. Völlig ausgeblendet wird dabei, dass die direkte Folge von 1515 die Unterzeichnung eines tatsächlichen «Kolonialvertrags» (eine Lieblingsformulierung der SVP aus ihrem Anti-EU-Vokabular) mit dem übermächtigen Frankreich war.
Der Nidwaldner Nationalrat Peter Keller, mehr SVP-Mann und «Weltwoche»-Redaktor als Historiker (aber mit einem Liz.-Abschluss an der geschmähten Uni Zürich), verweigert sich der Debatte um historische Realgegebenheiten, indem er gerade im Fall von Marignano den Mythos zu einer eigenen Realität erhebt, der eben die Schweiz ausmache und darum ernst genommen werden müsse.
Mit Geschichtsbildern wird Gegenwartspolitik betrieben und auf die Zukunft ausgerichtetes Handeln legitimiert.
Ernsthafte Debatten um die Richtigkeit von Vergangenheitsvorstellungen sind bei solchen Haltungen vergebliche Liebesmühe, weil die Gegenseite offen und ungerührt erklärt, dass nur der Mythos massgebend ist. Die Rechtsnationalen pflegen Mythen (die in ihren historischen Versionen ja tatsächlich ihren Reiz haben) jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen des Kults um das Mythische an sich. Dieses gibt ihnen die Möglichkeit, auch ihre triviale Tagespolitik darin zu transportieren, etwa mit dem positiven Mythos des Sonderfalls und dem negativen Mythos des «Europa-Königs», wie man ihn im Juni 2014 beim SVP-Fraktionsausflug als historisch-ahistorische Figur auftreten liess. Mit solchen Leuten ist über reale Fragen schwerlich ins Gespräch zu kommen.
Kein Zweifel: Mit Geschichtsbildern wird Gegenwartspolitik betrieben und auf die Zukunft ausgerichtetes Handeln legitimiert. Im Falle der Schweizer Geschichte stehen sich zwei Grundverständnisse gegenüber: Auf der einen Seite wird die Geschichte dieses kleinen Landes als ewiger, jedoch stets erfolgreicher Abwehrkampf und Verteidigung der so nicht bestehenden Unabhängigkeit verstanden; auf der anderen Seite die gleiche Geschichte als eine in hohem Masse vom Umfeld abhängige Entwicklung.
Mit dem ideologischen Morgenstern
Dazu ein Beispiel aus dem aktuellen Jubiläumsfundus, dem Kriegsende von 1945: Wegen des bevorstehenden Gedenkens vom Mai 2015 betont die eine Seite, dass die Schweiz ihre Unversehrtheit dem entschiedenen Unabhängigkeitswillen sowie einer grossen Führergestalt (General Guisan) verdanke. Diese Interpretation steht offensichtlich – und Markus Somm als Blocher-Ziehsohn und Guisan-Biograf hat das vorgemacht – im Dienst des von einem anderen «Helden» angeführten Kampfes gegen die drohende Integration in die EU, der mit dem ideologischen Morgenstern geführt wird.
Die Gegenposition erinnert daran, dass die Schweiz ihr Überleben dem vereinigten Kampf der Anti-Hitler-Koalition verdankt, und legt die Schlussfolgerung nahe, dass nicht der nationale Alleingang, sondern die Eingliederung in einen grösseren Staatenverband der richtige Weg sei.
Eine Frage der Betrachtung
Und wir, wir könnten uns, allerdings etwas billig, darauf einigen, dass doch beide Lesarten ihre Berechtigung hätten, und zugleich den beiden Aussenpositionen schön symmetrisch vorwerfen, dass sie gleichermassen die Geschichte einseitig instrumentalisieren würden: die SVP mit ihrer isolationistischen, die SP mit ihrer internationalistischen Betrachtungsweise.
Instrumentalisierung – das will der Wortgebrauch ja ausdrücken – ist in der Deutung der zumeist komplexen Geschichte nie gut. Zugleich ist es aber nicht einfach unzulässig, in der Geschichte Bestätigungen für eigene Haltungen in der Gegenwart zu suchen. Dann geht es aber nicht um die Frage, welcher Haltung die Geschichte gleichsam recht gibt, sondern welche Haltung aus unserer heutigen Sicht die richtige ist.
Und wenn man sich darauf einigt, dass beide Betrachtungsweisen berechtigt, ja nötig seien – die Ausrichtung auf das vermeintlich oder tatsächlich Separierende und/oder die Ausrichtung auf das vermeintlich oder tatsächlich Verbindende –, müssen wir uns fragen, ob die Anteile in diesem Mix stimmen. Dann muss man zum Schluss kommen, dass die nationale Betrachtungsweise stets die stärkere, einfachere und einschränkende ist und die Anerkennung der inter- und transnationalen Verbundenheiten die schwächere, kompliziertere und umfassendere.
Wessen «Geistes Kind» wir sind
Kein Wunder, dass die rechtsnationalen Populisten auf die eine Sicht setzen. Und hoch erwünscht und unbedingt nötig, dass historische Experten die andere Sicht – auch im Sinne eines Korrektivs – einzubringen versuchen. Dies hat beispielsweise der Berner Historiker André Holenstein mit seinem kürzlich erschienenen Buch «Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte» (Hier und Jetzt-Verlag) in gelungener und überzeugender und keineswegs einseitiger Weise getan.
In einer Würdigung dieses Beitrags hat ein anderer sehr beachteter Historiker, Thomas Maissen, in der NZZ hervorgehoben, dass diese Geschichtsbetrachtung davor warne, «das lange und insgesamt friedliche Überleben der Schweiz ausschliesslich als eigene Leistung zu missdeuten und ‹das Ausland› zudem noch pauschal als dauerhaften Aggressor zu verunglimpfen».
Der Wettbewerb, ja der Streit um das richtige Geschichtsbild dreht sich zwar zwangsläufig um Geschichte. Er gilt indessen mindestens so sehr der Art der Erinnerungskultur. Im Umgang mit der Geschichte zeigt sich, wessen «Geistes Kind» wir sind, welche Mentalität wir in uns tragen und weiterverbreiten.