Sie sind nicht mehr «Charlie»

Vor einem Jahr erschütterten die «Charlie Hebdo»-Anschläge ganz Frankreich. Seither hat sich das schwer getroffene Land verändert, auch als Folge des Bataclan-Attentates vom November. In Paris herrscht nicht mehr Charlies, sondern Le Pens Geist.

(Bild: Screenshot Instagram)

Vor einem Jahr erschütterten die «Charlie Hebdo»-Anschläge ganz Frankreich. Seither hat sich das schwer getroffene Land verändert, auch als Folge des Bataclan-Attentates vom November. In Paris herrscht nicht mehr Charlies, sondern Le Pens Geist.

Schon ein Jahr! Ein Jahr ist es her, dass zwei Brüder namens Chérif und Saïd Kouachi in die Redaktionssitzung des Satireblattes «Charlie Hebdo» eindrangen und mit ihren Kalaschnikows ein Blutbad anrichteten. Einen Tag später brachte ihr Komplize Amédy Coulibaly eine Polizistin im Pariser Vorort Montrouge um; am dritten Tag, einem Freitag, nahm und erschoss er sodann in einem jüdischen Kleinmarkt mehrere Geiseln, während die Polizei gerade die Kouachis in einer Fabrik östlich der Hauptstadt stellte.

17 Menschen plus die drei Terroristen liessen dabei ihr Leben. Frankreich stand unter Schock: Am Sonntag nach dem Attentat gingen in Frankreich spontan vier Millionen Menschen auf die Strasse und beschwörten die Solidaritätsdevise «Je suis Charlie». An der Spitze der Pariser Demo – die so riesig war, dass sie in drei Züge geteilt werden musste – marschierten gut 40 Staats- und Regierungschefs von Angela Merkel bis Viktor Orbán.

Nur die Rechtspopulistin Marine Le Pen war unerwünscht und musste an einen Front-National-Umzug in der fernen Camargue ausweichen.

Risse in der nationalen Eintracht

In den Wochen danach ging Frankreich in sich und fragte sich, wie es so weit hatte kommen können; Premierminister Manuel Valls gelangte gar zur Einsicht, dass die Banlieue-Jugend in einer sozialen, schulischen und geografischen «Apartheid» lebe. Präsident François Hollande erklärte, die Republik sorge sich um alle Bürger aller Religionen.

Bald zeigten sich allerdings Risse im schönen Bild nationaler Eintracht. Die Polizei nahm in ihrem Eifer nicht nur verdächtige Islamisten fest, sondern zum Beispiel auch einen Achtjährigen, der etwas von Jihad faselte. Im Frühling erschien postum ein Essay des erschossenen «Charlie»-Zeichners Charb, das die umstrittenen Mohammed-Karikaturen rechtfertigte. «Aufgrund welcher verdrehter Theorie ist Humor weniger vereinbar mit dem Islam als mit einer anderen Religion?», fragte der frühere Vordenker des Satireblattes, um sich gegen den Vorwurf der Islamophobie zu verteidigen.

Dann warf der Soziologe Emmanuel Todd der «Charlie»-Gemeinde in einer Streitschrift vor, sie bestehe nur aus der «weissen, katholischen Mittelschicht». Diese sei bemüht, «ihre Privilegien und insbesondere ihr gutes Gewissen gegen Ausgeschlossene, alteingesessene Arbeiter oder Kinder von Einwanderern zu verteidigen».

Ein überlebender Zeichner erklärte, er sei es «müde», Mohammed zu zeichnen und missverstanden zu werden.

Luz, ein «survivant» (Überlebender) und tragender Pfeiler von «Charlie Hebdo», der nach dem Anschlag das kongeniale Cover mit dem weinenden Propheten («alles ist verziehen») entworfen hatte, brach ein langes Schweigen und erklärte, er sei es «müde», weiter Mohammed zu zeichnen und falsch verstanden zu werden. Im September schied er aus der «Charlie»-Redaktion aus.

Ein Bestseller wirkte weiter: Michel Houellebecq beschrieb in der Politfiktion «Unterwerfung» einen islamistischen Wahlsieg in Frankreich. Der Plot entspringt eher den Fantasien und Ängsten eines hochneurotischen Autors als der wahlpolitischen Realisierbarkeit, doch das tat nichts zur Sache: Dass das Buch zufällig und ausgerechnet am Tag der «Charlie»-Anschläge erschienen war, verlieh ihm von Beginn weg Kultstatus.

Ebenso defätistisch und erfolgreich war «Der französische Selbstmord» des Reaktionärs Eric Zemmour, ein Pamphlet, das den neuen Vormarsch des fremdenfeindlichen Front National bei den Regionalwahlen von Mitte Dezember vorwegnahm.

«Patriot Act» nach dem Bataclan-Anschlag

Doch zuerst erzitterte Frankreich ein zweites Mal in seinen Grundfesten, als ein Terrorkommando am 13. November Gäste von Pariser Bistroterrassen und die Besucher des Bataclan-Lokals mit ihren Sturmgewehren niedermähte. 130 Tote blieben zurück, 350 wurden zum Teil schwer verletzt. Darunter der «Charlie»-Geist: Versöhnlichkeit, Brüderlichkeit und republikanisches Zusammenstehen sind in Frankreich nicht mehr aktuell. Hollande gab sich martialisch und dekretierte den nationalen Ausnahmezustand; der frühere Banlieu-Bürgermeister Valls äusserte kein Verständnis mehr für die Banlieue-Kids, sondern sprach von einem «Krieg der Zivilisationen».

Auch sonst erinnerte das Vorgehen der beiden Sozialisten eher an den amerikanischen «Patriot Act» nach den Nine-Eleven-Anschlägen auf die New Yorker Twin Towers. Frankreich drapiert sich in die Trikolore; die Armeepatrouillen in den Strassen gehören heute ebenso zum Alltag wie die – bereits über 3000 – Hausdurchsuchungen, die in Wohnvierteln ohne richterliche Ermächtigung vorgenommen wurden und werden.

Die Zahl islamfeindlicher Akte ist 2015 auf 400 hochgeschnellt – IS-Terrorstrategen reiben sich die Hände.

In der französischen Politik hat es Charlie nicht leichter. Die Dezemberwahl, die den Front National als führende Partei Frankreichs bestätigte, ist vorbei, doch Hollande portiert weiter FN-Vorschläge wie die Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Terroristen. Der Philosoph Alain Finkielkraut tönte wie ein Le-Pen-Echo, er fühle sich angesichts der Immigration fremd im eigenen Land.

Das gilt allerdings mindestens so sehr für Hunderttausende junger Franzosen der zweiten und dritten Einwanderergeneration: Im Vorstadtzug werden sie misstrauisch angeschaut, bei der Ankunft im Pariser Gare du Nord von der Polizei gefilzt. Die Zahl islamfeindlicher Akte – Anschläge auf Moscheen und dergleichen – ist 2015 auf über 400 hochgeschnellt. Die IS-Terrorstrategen im fernen Syrien reiben sich die Hände.

Muslime schützen Kirchen

Als an Weihnachten ein paar Banlieue-Rowdys in der korsischen Stadt Ajaccio Feuerwehrleute mit Steinen bewarfen, versammelte sich im Stadtzentrum aus dem Nichts ein Mob. Zum Ruf «Arabi Fora» (Araber raus) zogen ein paar Hundert Korsen zu einem moslemischen Gebetsraum und verwüsteten ihn. Dann verbrannten sie Exemplare des Koran, von dem die Steinewerfer wohl noch keinen Buchstaben gelesen haben.

In einigen anderen Städten hatten muslimische Verbände am Heiligabend hingegen mitgeholfen, Kirchen vor befürchteten Anschlägen zu schützen. «Wir leben zusammen, wir sind alle Brüder», sagte Organisator Hachim El Jazouli in Lens (Nordfrankreich). Die Kirchenbesucher spendeten der symbolischen Aktion dankbar Applaus. Vielleicht erinnerten sie sich kurz an die Zeit, als in Frankreich noch der «ésprit Charlie» geweht hatte.


Ab Donnerstag läuft in den Schweizer Kinos der Dokumentarfilm «Je suis Charlie», in dem Überlebende den Ablauf der Anschläge rekonstruieren und hinterfragen, was Satire darf und was nicht.

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