Pro-russische Separatisten kontrollieren die ostukrainische Kleinstadt Slowjansk. Am Montag morgen stürmten sie das Rathaus. Die meisten Einwohner stehen hinter den Aufständischen und wünschen sich den Anschluss an Russland. Von Moskau erhoffen sie sich Stabilität und eine bessere wirtschaftliche Zukunft.
Fünf Bewaffnete in Tarnanzügen stehen vor dem Rathaus von Slowjansk. Sie halten Kalaschnikows in den Händen, im Gebäude selbst verschanzen sich weitere Aktivisten. Am Montagmorgen hatten sie trotz eines Ultimatums aus Kiew das Gebäude im Zentrum der ostukrainischen Kleinstadt gestürmt. «Wir haben keine Angst davor, dass die ukrainische Armee anrückt», sagt einer der selbsternannten Wachen selbstbewusst.
Interimspräsident Alexander Turtschinow hatte mit einem Militäreinsatz gedroht, sollten die pro-russischen Separatisten öffentliche Gebäude in der Ostukraine weiter besetzt halten. Am Montagmorgen dann stellte Turtschinow überraschend ein Referendum über die Abspaltung der Ostukraine in Aussicht – es könne am selben Tag wie die Parlamentswahlen am 25. Mai stattfinden. Er sei überzeugt, dass die klare Mehrheit der Ukrainer für eine unteilbare, unabhängige und demokratische Ukraine stimmen würde, sagte Turtschinow am Montag.
Posieren mit den Separatisten vor dem Rathaus: Die lokale Unterstützung ist nicht erfunden. (Bild: GLEB GARANICH)
Spezialeinheiten konnten die Stadt nicht zurückerobern
In Slowjansk sieht die Realität anders aus. Die Stadt hat sich faktisch bereits von der Ukraine abgespalten, die Aktivisten haben die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Am Wochenende stürmten sie die Aussenstelle des Geheimdienstes, besetzten die Polizeiwache und errichteten Strassensperren. Ukrainische Spezialeinheiten starteten am Sonntag zwar eine Anti-Terroroperation. Zurückerobern konnten sie die 120’000-Einwohner-Stadt jedoch nicht – auch, weil der Widerstand gering ist.
An der Strasse der Jungen Kommune versperren einige hundert pro-russische Aktivisten die Zufahrt zum besetzten Geheimdienstgebäude. Sie tragen Wollmasken, Helme und verschanzen sich hinter Stahlschilden. Auf der Leninstrasse blockieren rund 200 Aktivisten den Zugang zur Polizeistation. Auf dem Dach des Backsteinhauses weht die russische Flagge, hinter dem Metallzaun schieben Männer in grünen Tarnanzügen Wache. Sie haben Bretter mit Nägeln auf die Zufahrtsstrassen zur Stadtverwaltung, Polizei und zum Geheimdienstgebäude gelegt. An improvisierten Checkpoints kontrollieren die Separatisten alle Lastwagen auf Waffen und Personen.
Wer ohne Georgsband durch das Stadtzentrum läuft, bewegt sich auf gefährlichem Boden. Vor allem Journalisten werden misstrauisch beobachtet.
Etwas weiter auf dem Puschkin-Boulevard gehen die Einwohner zwischen den Plattenbauten spazieren, als wäre nichts geschehen. Fast alle tragen hier Georgsbänder an ihren Jacken, als Zeichen der Solidarität mit der pro-russischen Bewegung. Das orange und schwarz gestreifte Banner gilt in Russland als Symbol der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. «Es ist ein Zeichen gegen den Faschismus», erklärt Alexej Ponomarenko.
Vor der Polizeistation stehen auch Maskierte. Ihre Absichten sind nicht allen klar. (Bild: GLEB GARANICH)
Der Mann in schwarzer Lederjacke und Wollmütze deutet auf ein verfallenes Gebäude mit eingeschlagenen Fensterscheiben. «Das war mal ein Chemiekombinat», seufzt der 53-Jährige. Slowjansk, sagt er, sei noch in den Neunzigern eine blühende Industriestadt gewesen. «Doch in der Ukraine wurde alles heruntergewirtschaftet.» In Russland dagegen sieht Alexej wie viele hier Zukunft und Stabilität. «Dort funktioniert alles», glaubt er. Deshalb unterstützt er die Separatisten, bei einer Volksabstimmung würde er für die Abspaltung der Ostukraine stimmen.
«Du willst wohl spionieren»
Wer ohne Georgsband durch das Stadtzentrum läuft, bewegt sich auf gefährlichem Boden. Vor allem Journalisten werden misstrauisch beobachtet. Als ein italienischer Reporter mit der Videokamera die Barrikaden filmt, umzingeln aufgebrachte Bürger den Korrespondenten. «Du willst wohl spionieren», ruft ein Mann mit einer schwarzen Trainingsjacke. Dann zwingt er den Reporter, die Aufnahmen zu löschen. Am Sonntag starben in Slowjansk zwei Menschen, nachdem ihr Auto auf der Strasse beschossen wurde. In dem Auto fand man einen Presseausweis, das Fahrzeug gehörte vermutlich einem ukrainischen Journalisten.
Am Sonntag brannte es noch Slowjansk. (Bild: STRINGER)
«Die Wirtschaftslage hat das Fass zum Überlaufen gebracht», sagt Alexej. Innerhalb von zwei Monaten fiel die ukrainische Währung Griwna gegenüber dem Euro um mehr als fünfzig Prozent. Lebensmittel und Benzin werden immer teurer, die Preise für Erdgas will die Regierung demnächst fast verdoppeln, nachdem Russland den Preis für Gasexporte in die Ukraine massiv erhöht hat. Wegen der Krise liegt die Wirtschaft am Boden. «Wie soll das weitergehen?», fragt Alexej.
Die Furcht vor dem Bürgerkrieg
Eigentlich gehört die Region um Slowjansk zum Wirtschaftsmotor der Ukraine. Im Donbass-Gebiet siedeln riesige Metall- und Bergbaukonzerne, Kohle und Stahl haben die Region reich gemacht. «Doch davon merken wir hier nichts», sagt Alexej. Das Geld fliesse hauptsächlich nach Donezk, wo Oligarchen wie Rinat Achmetow Politik und Wirtschaft bestimmen. Achmetow, der früher Präsident Viktor Janukowitsch unterstützte, rief in den vergangenen Wochen immer wieder zur Einheit des Landes auf. «Aber das Volk steht nicht mehr hinter ihm», meint Alexej.
Die Ukraine hat die Kontrolle über die 120’000-Einwohner-Stadt längst verloren. (Bild: GLEB GARANICH)
Die ukrainische Regierung fürchtet einen Bürgerkrieg und eine russische Militärintervention, sollte die Lage ausser Kontrolle geraten. Kiew beschuldigt den Kreml, hinter den Aufständischen in Slowjansk zu stehen. Die Separatisten hätten die Stadt vor allem wegen ihrer geografischen Lage ausgewählt. Bei Slowjansk befinden sich mehrere Militärstützpunkte sowie Waffenlager. Die Stadt liegt an einem Eisenbahnknotenpunkt und ist von der gesamten Donezk-Region gut zu erreichen.