So klingt die Regenschirm-Revolution

Die Hippies hatten ihre psychedelische Musik, die Achziger Bewegung ihren Punk. Jetzt haben auch die Regenschirm-Revolutionäre in Hongkong ihren Stil gefunden. Mögen die Proteste für mehr Demokratie irgendwann vorbei sein, die Musik wird bleiben – und damit vielleicht auch ihre Idee. Eine Reise durch Protestsongs.

Während der Besetzung der Strassen findet die Kunst in Hongkong plötzlich, was es in der Finanzmetropole sonst kaum gibt: Platz und Raum. (Bild: Winnie Lau)

Die Hippies hatten ihre psychedelische Musik, die Achziger Bewegung ihren Punk. Jetzt haben auch die Regenschirm-Revolutionäre in Hongkong ihren Stil gefunden. Mögen die Proteste für mehr Demokratie irgendwann vorbei sein, die Musik wird bleiben – und damit vielleicht auch ihre Idee. Eine Reise durch Protestsongs.

In Hongkong scheint die Gewalt gegen friedliche Teilnehmer der Proteste für Demokratie derzeit nicht nachzulassen. Doch die Regenschirm-Bewegung weckt ein neues Selbstbewusstsein bei Jugendlichen aus Hongkong. Dieses zeigt sich auch in den kreativen Aspekten des Protests. In der Finanzmetropole, wo Raum und Zeit normalerweise knapp sind, ergibt sich mit der Besetzung der Strassen eine ungewohnte Situation: Es gibt Platz für Kunst.

Kreativität steigert die Attraktivität der Bewegung und bekräftigt das gute Image der «best-behaved protesters in the world» in westlichen Medien. Diese Protestierenden sind nicht nur fähig, Verpflegung und Abfallentsorgung zu organisieren. Sie lassen förmlich Kunstwerke entstehen: Von Regenschirm-Skulpturen über Strassenmalerei und Performance bis zu Variationen des gelben Bandes in allen Grössen scheint alles möglich zu sein.

Neben den Erkennungszeichen, gelbes Band und Regenschirm, spielt Musik eine entscheidende Rolle für die Demokratiebewegung. An erster Stelle wohl der 1993er-Rock-Song «Boundless Oceans Vast Skies» der Hongkonger Kultband Beyond: Er wurde zu einer Hymne des Prostests. Es ist eine kraftvolle und emotionale Rock-Ballade im typischen Stil der 90er-Jahre, mit einem Refrain, der von den Leuten wieder und wieder gesungen wird.

Die Ballade verstärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sie vereint Melancholie und eine nostalgische Erinnerung an die Kolonialzeit. Sie weckt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sowie die Bereitschaft, für die eigenen Ideale zu kämpfen.

Im Refrain von «Boundless Oceans Vast Skies» wird, auf Deutsch übersetzt, ziemlich offensichtlich, dass er den Kern dessen trifft, was die Leute auf Hongkongs Strassen derzeit fühlen:

Vergib meiner Liebe zur Freiheit mein Leben lang
Auch wenn ich befürchte eines Tages zu fallen
Jeder kann seine Ideale aufgeben
Doch ich habe keine Angst, auch wenn nur noch Du und ich übrig bleiben.

Etwas ganz Anderes, was bei den Protesten oft zu hören ist, ist «Happy Birthday». Das Lied wird immer dann gesungen, wenn ein Gegner des Protests die Studenten beleidigt oder attackiert. Wann immer jemand Gewalt zu provozieren versucht, antworten die Protestierenden mit einem «Happy Birthday». Eine witzige und nahezu dadaistische Antwort – mit enormem Effekt: Der Gesang lässt die angreifende Partei ziemlich dumm dastehen.

Selbstverständlich gibt es auch eine Menge neuer Songs, meist von jüngeren Musikern aus der Indie-Szene geschrieben. Hier kann davon nur eine kleine Selektion präsentiert werden, zumal hoffentlich auch noch viele derartige Songs entstehen mögen.

Der Song «I promise you an umbrella» von Michael Lai & Stephen Mok klingt so sanft, wie ein Protest-Song derzeit nur in Hongkong klingen kann, wo die Leute mit aller Freundlichkeit für Demokratie kämpfen.

Der Umbrella-Revolution-Kanal auf Youtube veröffentlichte einen Song mit verschiedenen bekannten Musikerinnen und Musikern aus Hongkong. Dessen Titel könnte mit «einen Regenschirm halten» übersetzt werden. Der «We-Are-The-World»-Gestus steht für die Vereinigung verschiedener Stimmen im Refrain, symbolisch für die unterschiedlichen Standpunkte, die in einer echten Demokratie zur Sprache kommen.

Gleiches gilt für einen Protest-Song, der auf einer bekannten Melodie aus dem Musical «Les Misérable» basiert. Ganz süss und fragile ist diese Version davon. Ein Musikvideo der Cantopop-Sängerin Kay Tse wurde von der chinesischen Zensurbehörde für das Festland geblockt, da es mit Motiven der Auflehnung spielt.

«Dream of universal suffrage» mahnt gegen das Vergessen und spannt den Bogen von den Demonstrationen der 1960er-Jahre bis in die Gegenwart.

Und in diesem Zusammenschnitt finden die Stimmen von Sängerinnen im Studio und Protestierenden zusammen, die auf Hongkongs Strassen eine Protestsong-Version des Duetts «When you believe» von Mariah Carey und Whitney Houston singen:

Ziemlich britischen Humor zeigt David Cheng in einem Song, dessen Titel frei wie folgt übersetzt werden könnte: «Ich befürchte, Du wirst wütend, wenn ich Dir sage, Du bist ein dummer Schwanz». Der Song erzählt die Geschichte eines Typen, der einen Freund dafür beschimpft, alles zu glauben, was die Peking-treuen Medien berichten.

Die Singer-Songwriterin Winnie Lau (Modern Children) widmete ihren Song «Little Dreamers» bei einem Konzert in der Schweiz bereits am 2. Juli 2014 den Studenten, die in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli für das Demonstrieren verhaftet wurden. Zurück in Hongkong spielt sie auf den Strassen und an Benefizkonzerten.

Der Künstler Choi Sai Ho kombiniert Videos mit elektronischer Musik, was die Dichte und die Nervosität der Stadt fühlbar macht. So etwa im Video «Umbrella Tree» oder im Video zu «People», das die Nathan Road in Mong Kok zeigt. 

Mit «Teargas» erfindet die Schülerband Big Boyz Club gar ein neues Genre: Gentle Rap. Einige ihrer Songs, welche die Band eigens für das Umbrella Movement geschrieben haben oder wegen des Inhalts und der Popularität dafür wichtig wurden, sind in einer Youtube-Liste zusammengetragen.

Sanfte Töne machen den Protest

Es ist interessant, aber nicht unbedingt überraschend, dass die meisten Songs relativ soft und nicht aggressiv klingen. Sie sind emotional und voller Pathos, zeugen von Entschlossenheit und der Bereitschaft, für etwas einzustehen, jedoch mit friedlichen Mitteln. Wenn man so will, gibt es eher Streicher und Harfe als Schlagzeug und Kampfgebrüll.

Doch wie könnte man die Musik bezeichnen, die während der Proteste entstanden ist? Angesichts der Cantopop-Tradition von Hongkong wäre der Begriff «Soft-Rock-Revolution» nicht weither geholt. Und da die jüngere Generation wie Chochukmo und My Little Airport – die mit «I love the country but not the party» übrigens auch ziemlichen Klartext reden – eher dem Stil des Twee-Pop verpflichtet sind, wäre auch eine Wortschöpfung wie «Tweevolution» denkbar. Beides würde aber doof klingen. So nennen wir es einfach «Umbrella Music».

Wohin führt Umbrella Music?

Nachdem wir also einen Namen gefunden haben, stellen sich die nächste Fragen: Was braucht es, damit Umbrella Music eine Zukunft hat? Wie kann sie bestehen und die Demokratiebewegung lebendig halten, auch wenn die Leute wieder dem Alltag nachgehen und dem Geld hinterherrennen?

Als erstes muss sich die Umbrella Music über den Inhalt definieren, nicht über musikalische Dogmas: Es ist nicht der Musikstil, der diese Musik ausmacht – es ist die Message der Songs. Jeder Stil kann Umbrella Music sein, solange der Song für Demokratie steht und kritisches Denken fördert. Es gibt tonnenweise Popmusik aus dem Festland, der vor allem dazu dient, die Leute bei Arbeits- und Konsumlaune zu halten und dank Chinas Turbokapitalismus die Taschen der Partei zu füllen. Davon grenzt sich Umbrella Music ab.

Zweitens sollte die Musik die Befindlichkeit der Leute ausdrücken und gesellschaftliche Themen reflektieren. Demokratisch meint hier, dass es verschiedene Standpunkte geben darf und die Songs miteinander in Diskurs treten. Hongkong Pop muss davon wegkommen, nur Glamour und Kitsch zu vermitteln. Er muss sich auf aktuelles Geschehen und Realitäten beziehen.

Drittens muss die Musik öffentlich gespielt und online verbreitet werden. Es ist wichtig, dass Leute aus aller Welt diese Musik als Protestmusik wahrnehmen. Dies hilft dabei, das Interesse an den Geschehnissen von Hongkong aufrecht zu halten.

Und zuletzt ist es wichtig, dass die Umbrella Musik offen bleibt für verschiedene Stile und Meinungen. Sonst verliert sie ihr demokratisches Wesen. Es soll Umbrella Music für jeden Geschmack geben, ähnlich wie sich jeder der Demokratiebewegung in Hongkong anschliessen kann, indem er ein gelbes Band trägt oder einen Regenschirm aufspannt.

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Andrin Uetz studierte Musikwissenschaft und Philosophie an der Uni Basel und arbeitet derzeit in der Schweizerischen Nationalphonotek in Lugano. Er verbrachte mehrere Monate in Hongkong, gab Konzerte mit seiner Band Europa und pflegt Kontakte zur lokalen Musikszene. Während der Art Basel Hongkong schoss seine Band ein Musikvideo zu Asia Melody in den Strassen von Sai Ying Pun.

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