Der Strombedarf kann bis 2050 steigen oder sinken – und völlig unterschiedlich gedeckt werden. Bemerkenswert aber ist, dass die Stromwirtschaft eine wesentliche Energiewende erst ab 2030 erwartet.
Der Bundesrat hat seine «Energiestrategie 2050» bereits beschlossen und veröffentlicht. Die Stromwirtschaft präsentiert jetzt ihre eigene Sicht zur Schweizer Stromzukunft. Genauer: Ihr Dachverband VSE legte gestern drei Szenarien für die Stromversorgung im Jahr 2050 vor. Alle drei setzen den Atomausstieg voraus, gehen aber von einer unterschiedlichen Energiepolitik aus. Die Resultate der Eck-Szenarien 1 und 3:
- Beim Szenario 1 mit «verstärkter» Energiepolitik ist der nationale Stromverbrauch im Jahr 2050 um 25 Prozent höher als heute. Gedeckt wird er zu 55 Prozent mit erneuerbarer Energie (primär aus Wasserkraft), zu 18 Prozent aus Gaskraft und zu 27 Prozent aus zusätzlichem Importüberschuss. Die Stromkosten steigen um 30 Prozent.
- Beim Szenario 3 mit «fundamental» neuer Energiepolitik verbraucht die Schweiz im Jahr 2050 sieben Prozent weniger Strom als heute. Den verbleibenden Bedarf deckt sie zu hundert Prozent mit erneuerbarer Energie aus dem Inland. Gegenüber heute steigen die Stromkosten bei diesem Szenario um 70 Prozent.
Kosten relativieren sich
Das energetische Resultat des Szenarios, das der VSE als «fundamental» bezeichnet, entspricht weitgehend der «Energiestrategie 2050» des Bundes. Grosse Unterschiede resultieren hingegen bei den Investitionen und Kosten: Der Bundesrat rechnet bis 2050 mit Investitionen von maximal 50 Milliarden Franken in Kraftwerke und Netze. Der VSE hingegen budgetiert Investitionen, die sich bis 2050 – je nach Szenario – auf total 118 bis 150 Milliarden Franken summieren.
Die Erhöhung der Stromkosten um 70 Prozent, die sich beim Szenario «fundamental» innerhalb von 38 Jahren ergibt, ist allerdings zu relativieren. Denn pro Jahr entspricht das einem Aufschlag der Strompreise um lediglich 1,5 Prozent. Das heisst: Wenn die Schweizer Wirtschaft bis 2050 um mehr als 1,5 Prozent pro Jahr wächst, wie sich das die Konjunkturförderer wünschen, so wird der Anteil der Stromkosten am Bruttoinlandprodukt 2050 sogar kleiner sein als heute.
Energiewende mit Verzögerung
Bemerkenswert an den Szenarien des VSE ist zweierlei: Erstens die erwähnten deutlichen Unterschiede beim Stromverbrauch und dessen Deckung im Endjahr 2050, die sich zwischen den Szenarien 1 und 3 ergeben. Zweitens die Entwicklung in den verschiedenen Zeiträumen. Denn die Wende in der Schweizer Stromversorgung erwartet der VSE zur Hauptsache erst zwischen 2030 und 2050 – also erst ab einen Zeitpunkt, ab dem die heutige Führungsriege der Schweizer Stromwirtschaft (samt den Verfassern der Szenarien) bereits pensioniert sein wird.
Konkret: Bis 2025 geht der VSE bei allen Szenarien von einem weiteren Anstieg des Stromverbrauchs aus. Selbst beim „Szenario fundamental“ beginnt der Verbrauchsrückgang erst ab 2030. Den ab 2020 stufenweise wegfallenden Atomstrom will der VSE bis zum Jahr 2030 primär durch zusätzlichen Importüberschuss decken, bei den Szenarien 1 und 2 zusätzlich durch inländische Gaskraftwerke. Wind- und Solarkraft hingegen tragen im Jahr 2030 bei allen VSE-Szenarien noch weniger als zwei Prozent zur Schweizer Stromversorgung bei. Von 2030 bis 2050 aber vervielfacht sich die Stromproduktion aus inländischer Wind- und Solarkraft und erreicht beim Szenario „fundamental“ einen Anteil von rund 30 Prozent am Stromverbrauch.
Kontrast zu grünen Szenarien
Die Szenarien des VSE stehen damit in Kontrast zu grünen Szenarien: Der Verband Swissolar zum Beispiel will schon im Jahr 2025 einen Anteil von 20 Prozent des Schweizer Stromverbrauchs mit Solarstrom decken. Und der SP-Energieexperte Ruedi Rechsteiner strebt in seinem neusten Buch schon fürs Jahr 2030 eine «hundert Prozent erneuerbare» Stromversorgung an. Auch die Energiestrategie des Bundesrates rechnet mit einem etwas schnelleren Umstieg auf erneuerbare Energie als der VSE.
Den Umstand, dass beim VSE die Energiewende erst nach 2030 stattfindet, mögen Spötter auf fehlende Wandlungsfähigkeit der heutigen Strommanager zurück führen. Es gibt dafür aber auch ökonomische Gründe: Die Rezession in der EU senkte ab 2008 den Stromverbrauch und drückte die Preise auf dem europäischen Strommarkt. Der zeitweilige Überschuss an subventioniertem Wind- und Solarstrom (vor allem aus Deutschland) verkürzt die Laufzeit und damit die Rentabilität von konventionellen Kraftwerken zusätzlich. Marktverzerrungen zwischen subventioniertem und konventionellem Strom und die Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung hemmen Investitionen in die Energiewende.